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    Artikel des Monats März 2010 Teil 2

    Barbara Baumgarten berichtet über ihr ME/CFS-Zentrum an der Osloer Uniklinik

    Ein herzliches Dankeschön an Nicole Krüger, die nicht nur das Interview mit Frau Dr. Baumgarten geführt, sondern dieses auch noch verschriftlicht und ausgearbeitet hat. Und ein Danke für die Erlaubnis zur Veröffentlichung an dieser Stelle!

    Text hier als pdf-Datei

    Dr. med. Barbara Baumgarten

    Zur Person

    Frau Dr. Baumgarten leitet seit 2008 das ME-Zentrum am Ullevål University Hospital, Oslo, Norwegen. An der Gestaltung und Gründung des Zentrums hatte sie wesentlichen Anteil.

    Dr. Baumgarten wurde in Hamburg geboren. Schon als Kind verbrachte sie häufig ihre   Sommerferien bei ihrer Tante auf den Lofoten/Norwegen. Nach ihrem Abitur in Deutschland entschied sie sich für ein Studium in Norwegen und zog 1980 dorthin.

    Während des Studiums lernte sie ihren ersten Mann kennen. Frau Dr. Baumgarten ist Mutter von vier Kindern und mittlerweile zum zweiten Mal verheiratet. Ihr Studium der Medizin absolvierte sie an der Universität von Oslo. Anschließend arbeitete sie zunächst zwei Jahre in einem Krankenhaus in der Inneren Medizin und Chirurgie und weitere zwei Jahre lang in einem Pflegeheim.

    1996 eröffnete sie ihre eigene Praxis. Dort hatte sie ab 1997 erstmals mit ME/CFS-Patienten zu tun. Zusätzlich arbeitete sie ab April 2006 einen Tag pro Woche als Ärztin an der Abteilung für Infektionskrankheiten am Ullevål University Hospital, Oslo. Ihre Arbeit führte ihr die Notwendigkeit vor Augen, nach spezialisierten medizinischen Leistungen für ME-Patienten zu suchen. Dr. Baumgarten hat viele Vorträge über ME vor Hausärzten, in Krankenhäusern und für den norwegischen ME Association gehalten.

    Sie ist Vorstandsmitglied der norwegischen Medical Association in Oslo.

    Frau Dr. Baumgarten, haben Sie noch Kontakt zu deutschen Ärzten?

    Zwei meiner besten Freundinnen aus meiner Schulzeit sind Ärzte geworden, eine Chirurgin und eine Internistin. Sie berichten mir auch manchmal über deutsche Verhältnisse. Durch mein Studium in Oslo habe ich keinen Kontakt zu deutschen Ärzten aufgebaut. Es ist auch ein sprachliches Problem. In Deutschland werden viel mehr Ausdrücke übersetzt als in Norwegen oder England. So sind mir zwar die Fachbegriffe bekannt, aber ich kenne nicht immer die deutschen Übersetzungen.

    Hatten Sie schon vor Ihrer jetzigen Tätigkeit im Behandlungszentrum ME-Patienten?

    Ja, bewusst seit 1997. Davor hatte ich rückbetrachtend auch schon ME-Patienten. Zu dieser Zeit war mir das Krankheitsbild noch nicht bewusst. Ich konnte die Beschwerden dieser Patienten daher noch nicht einordnen.

    Wie würden Sie diesen ersten Kontakt beschreiben und wie war das für Sie?

    Eine Homöopathin leitete aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus eine Patientin an mich weiter. Diese Patientin hatte einen Herbst lang fünf oder sechs Kieferhöhlenentzündungen gehabt und bekam dann auch noch zwischen Weihnachten und Neujahr Schwindelanfälle dazu. Ich vermutete eine virale Ursache dafür. Ich bin ebenfalls ausgebildete Homöopathin. So versuchte ich zunächst ebenfalls mit Homöopathie der Patientin Linderung zu verschaffen.

    Da ich mit diesem Ansatz ebenfalls keinen Erfolg hatte, habe ich weitere Untersuchungen eingeleitet. Die Patientin bekam immer neue Schwindelanfälle und sie war so unheimlich erschöpft, was bei Schwindelanfällen durchaus möglich ist. Sowohl die Patientin als auch ich  dachten, dass die Erschöpfung mit dem Schwindel im Zusammenhang steht. Aus diesem Grund habe ich sie zunächst an einen Neurologen überwiesen und anschließend noch an einen Hals-Nasen-Ohrenarzt, aber beide Ärzte konnten die Ursache des Schwindels nicht feststellen. In dieser Zeit wurde entdeckt, dass bestimmte Schwindelzustände mit dem verrutschen von Ohrsteinchen٭ im Innenohr im Zusammenhang stehen. Man fand heraus, dass mit einfachen Kopfbewegungen die Steinchen wieder in Balance gebracht werden können. Bei vielen Patienten, bei denen ich diese Therapieübungen durchgeführt habe, gelang es, die Betroffenen von ihrem Schwindel zu befreien. Bei dieser Patientin blieb dieser Erfolg aus. Sie war mittlerweile voll krankgeschrieben. Irgendwann begann sie mir regelmäßig davon zu erzählen, dass Ihre Beschwerden immer dann besonders stark auftraten, wenn sie mit ihrer vier Jahre alten Tochter spielte. Die Schwindelanfälle würden sich immer dann verschlechtern, wenn sie nicht den ganzen Tag auf dem Sofa ausruhen würde, sondern wenn sie sich anstrengte. Es dauerte zwei Jahre bis es mir dämmerte, dass es sich um etwas handeln könnte, was man als postvirales Erschöpfungssyndrom bezeichnete.

    Wer ist auf das postvirale Erschöpfungssyndrom gekommen?

    Mir fiel irgendwann ein, dass ich im Studium mal davon gehört hatte. Lassen Sie mich überlegen, war das nach zwei Jahren? Ich weiß, 1998 hatte ich schon neue Patienten mit ME. Zu dieser Zeit wusste ich schon, um was es sich handelte. Wie auch immer, auf jeden Fall dämmerte es mir, schon einmal davon gehört zu haben. Zwar lagen bei dieser Patientin keine viralen Ursachen vor, Kieferhöhlenentzündungen sind ja meist bakteriell, aber sie hatte im Herbst massiv mit Infekten zu tun. Der Schwindel und die Erschöpfung waren dann auch stärker ausgeprägt. Die Patientin berichtete mir von einem Spezialisten für Infektionsmedizin in Oslo. Sie hatte gehört, dass dieser sich gut mit diesem Krankheitsbild auskennen würde.

    Ich überwies sie zu diesem Spezialisten, und dieser bestätigte dann die Diagnose ME. Dieser Spezialist war es dann auch, der mich zehn Monate später im Krankenhaus einstellte.

    Dieser Spezialist, Herr Prof. Brubeck, war Leiter der Abteilung für Infektiologie. Er hatte 1989 selbst eine Patientin, bei der er zunächst auch nicht wusste, was die Ursachen der Erkrankung bei dieser Patientin waren. Bis ihm einfiel, schon mal davon gehört zu haben. Also fing er an, seine Infektionsmedizinbücher zu wälzen und stellte fest, dass dieser Gesundheitszustand eigentlich ein gut beschriebener Zustand sei.

    In Norwegen?

    Nein. Dieses Wissen ist weltweit bekannt. Dieses postvirale Erschöpfungssyndrom ist ein relativ bekannter und gut beschriebener Zustand. Leider bekommt man im Studium nur in einem Nebensatz davon zu hören. Von daher ist dieser Zustand nicht ausreichend im Bewusstsein von Ärzten. Damals wusste in Norwegen auch niemand etwas über dieses Syndrom. Es lagen ja nicht nur virale Ursachen vor. Die Genese ist ja immer der auslösende Faktor. Ungefähr bei 70% war die Genese eine Infektion, dabei meistens ein Virus. Es kann aber auch durch Bakterien oder Parasiten oder andere Ursachen ausgelöst werden. Das Syndrom wurde daher umbenannt in Chronisches Erschöpfungssyndrom. Unsere Patientenorganisation sprach von Myalgischer Enzephalomyelitis. Diese Bezeichnung wurde bereits 1956 in mehreren Artikeln verwendet, die in „The Lancet“ ٭ veröffentlicht worden waren.

    Wir sprechen jetzt von Enzephalopathie, weil eine Myelitis eigentlich auf eine Entzündung im  Nervensystem deutet. Eine solche Entzündung kann aber nicht immer nachgewiesen werden. Wir sind jetzt also bei der Bezeichnung Myalgische Enzephalopathie gelandet. Ich bin mir nicht sicher, ob dass der perfekte Name ist. Wir haben das ME vorne stehen und das CFS dann dahinter. Weil CFS von vielen missverstanden wird, Chronisches Erschöpfungssyndrom, da denken die Leute, die sind nur ein bisschen müde, und auf norwegisch heißt es Chronisches Müdigkeitssyndrom, das ist der offizielle Name. Aber diese Bezeichnung benutzen wir nicht. Meine Patienten berichten mir, dass die Beschwerden mit einer normalen Müdigkeit überhaupt nicht vergleichbar sind.

    Ich war letzten Sommer selbst an einer Grippe erkrankt. Ich war so schwach, dass ich  kaum  zur Toilette kam. Ich hatte das Gefühl, dass mir meine Kraft aus den Füssen fließt.

    Ich fragte mich in diesem Augenblick, fühlt es sich so bei meinen Patienten an? Viele sprechen von einem Grippegefühl.  Bei einer Grippe denkt man an etwas  Harmloses.

    Aber als ich das so erlebt habe… Ich glaube, am ersten Tage habe ich es gerade geschafft, zweimal auf Toilette zu gehen und ein bisschen Wasser zu trinken, ansonsten war ich nicht zu gebrauchen. Ich verwende dieses Beispiel jetzt manchmal, wenn ich über das Krankheitsbild berichte. Ich halte viele Vorträge vor Allgemeinmedizinern und versuche dabei, begreifliche Beispiele zu geben. Mit Worten allein ist ME/CFS nur schwer vorstellbar.

    Wir müssen uns ehrlich vor Augen führen, dass wir selbst vor Krankheitsbeginn von ME/CFS nichts gewusst haben.

    Das sagt unsere Patientenrepräsentantin auch immer. Es wird z.B. in unseren Copingkursen thematisiert. So berichtet sie, dass sie, auch wenn sie Krankenschwester und Anästhesiekrankenschwester sei, erst durch ihre Freundin gesehen hat, was diese Krankheit bedeutet. Zwei Jahre bevor sie dann selbst daran erkrankt ist, hätte sie erlebt wie ihre Freundin, die früher viel gewandert ist, sich nur noch unter größter Kraftanstrengung aus dem Wohnzimmer schleppen konnte. Sie sagt offen, dass sie zwar gedacht hat, dass es etwas Ernstes ist, da sie wusste, dass Ihre Freundin eine superaktive und sportliche Frau gewesen ist.

    Sie hat aber erst, als sie selbst erkrankte verstanden, was es heißt, ME zu haben.

    Mir geht das auch so. Durch meine Grippeerkrankung kann ich es mir jetzt vielleicht etwas besser vorstellen. Dabei habe ich auch gemerkt, wie schnell man vergisst. Mein Büro ist im vierten Stock. Ich nutze normalerweise nicht den Fahrstuhl. Als ich nach ca. einer Woche wieder zur Arbeit ging, war es für mich die Hölle, die Treppe hoch zu gehen. Und das Komische daran war, ich konnte mich nicht erinnern, ob es mir vor Krankheitsbeginn leicht fiel, die Treppe hochzugehen. Erst nach zwei Wochen, als ich wieder normal hoch laufen konnte, ohne mir irgendwie Gedanken zu machen, war es mir wieder klar. Dadurch wurde mir auch bewusst, dass viele Fragebögen danach fragen, wie die Leistungsfähigkeit im Vergleich zu früher sei. Aber genauso, wie man sich eigentlich nicht vorstellen kann, wie es ist, krank zu sein, kann man sich, wenn man krank ist, eigentlich nicht mehr richtig vorstellen, wie es eigentlich war, gesund zu sein.

    Wie wurden Sie Leiterin des Zentrums? Waren Sie Mitinitiatorin bei der Gründung?

    Ja. Ich hatte ja bereits seit Mitte der neunziger Jahre Patienten mit ME/CFS betreut. Es hatte sich unter Betroffenen rumgesprochen, dass ich meine Patienten mit ME/CFS ernst nehme. Dadurch kamen immer mehr Patienten zu mir in die Praxis. In einer allgemeinmedizinischen Praxis ist es nicht einfach, eine angebrachte Versorgung zu bieten. Eine durchschnittliche Gesprächszeit im üblichen Rahmen einer normalen Praxisversorgung reicht für diese Patientengruppe nicht aus.

    Es ergab sich, dass das Universitätskrankenhaus in Oslo eine Stelle für Allgemeinmediziner für einen Tag in der Woche ausgeschrieben hatte. In Norwegen und in Dänemark arbeitet man mit Praxiskonsolenten. Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, eine bessere Kommunikation zwischen  Krankenhaus und dem primären Gesundheitsdienst zu erreichen.

    Zunächst erhielt die zuständige Krankenhausbehörde immer wieder von unseren Patientenorganisationen Anfragen, was eigentlich mit einem speziellen Angebot für ME-Patienten wäre. Die Organisationen machten darauf aufmerksam, dass es bisher keine geeignete Versorgung für ME-Patienten geben würde, diese Patientengruppe schlecht behandelt würde und die Mediziner keine Kenntnisse zu ME besitzen würden.

    Der Abteilungsoberarzt der Infektionsmedizin der Universitätsklinik Oslo, Herr Prof. Brubeck,  hatte, wie berichtet, schon länger Erfahrungen mit ME-Patienten gesammelt, so erhielt er die Schreiben der Klinikbehörde mit der Bitte zu untersuchen, was für ein Angebot erforderlich wäre. In seiner Funktion als Abteilungsoberarzt hatte er aber keine Möglichkeiten etwas zu ändern. Als dann die Stelle in der Klinik geschaffen wurde, entschloss er sich, diese dazu zu nutzen, um ein Angebot für ME-Patienten aufzubauen. So wurde die Stelle annonciert.

    Ich hatte zu dieser Zeit das Gefühl, dass mich der Praxisalltag ziemlich auffraß. So bewarb ich mich für die Stelle, um einmal die Woche etwas anderes machen zu können und dabei noch einen guten Stundenlohn zu erhalten. Ich glaubte mich auf eine Stelle in der Geriatrie zu bewerben, was mir zu gute kam, da ich eine zeitlang in einem Altenheim gearbeitet hatte. In dem Bewerbungsgespräch erfuhr ich dann, dass man jemanden für die Infektiologie suchte, der sich dem Thema ME annehmen sollte. Da wollte ich natürlich lieber diese Stelle haben. 

    Ich hatte schon häufiger mit Prof. Brubeck zu tun, da wir viele gemeinsame Patienten hatten. Als er hörte, dass ich die Stelle gern haben wollte, hat er sofort zugesagt.

    Ich fing also an, einmal die Woche in der Klinik zu arbeiten, machte den Copingkurs mit und erhielt einen Stapel Literatur mit verschiedenen Artikeln und auch ein paar Bücher über ME. In dem Copingkurs habe ich viel Neues kennen gelernt. Ich hatte gedacht, schon viel zu wissen. Doch in der Gruppe werden unter Patienten Sachen ausgetauscht, von denen ich in meiner Praxis nichts gehört hatte.

    Woher bekamen Sie die Literatur?

    Die hatte Herr Prof. Brubeck gesammelt. Er sammelte alles, was in der internationalen Forschung zu ME veröffentlicht wurde.

    In den Artikeln konnte ich nachlesen, dass schon einiges an Forschung bekannt ist. So erfuhr ich, dass teilweise Infekte im Verdacht stehen, ME zu verursachen. Ich las über persistierende Erreger und welche Auslöser es gibt. Und ich erfuhr von dokumentierten epidemieähnlichen Ausbrüchen z.B. in Island und in England und vieles mehr. Ich habe mich zunächst mit allem vertraut gemacht und mir dann Gedanken darüber gemacht, was wir benötigen.

    Wie sahen Ihre Überlegungen aus?

    Wir benötigen eine Poliklinik, in der wir mehr Zeit für die Patienten haben, und ein Betreuungsteam, das interdisziplinär zusammenarbeitet und über die nötige Kompetenz zu ME verfügt.  Ich hatte bereits die Ergotherapeutin aus den Copingkursen kennengelernt und eine Physiotherapeutin, der es gelang, durch Entspannungsübungen eine wirkliche Tiefenentspannung zu erreichen. Die sollten unbedingt ins Team. Es sollten noch eine Ernährungssoziologin, eine Sozialarbeiterin und  ein psychiatrischer Krankenpfleger  dazu kommen. Der psychiatrische Krankenpfleger sollte Betroffenen z.B. vermitteln, wie man lernt, mit einer plötzlich auftretenden chronischen Erkrankung zu leben. Wir haben aber noch nicht alle Stellen besetzen können und haben noch Stellen annonciert. Es fehlt auch noch ein Psychologe. Wir werden zwar bereits mit Patienten überhäuft, das erforderliche Team ist aber noch nicht vollständig eingestellt. Wir sind noch auf der Suche nach geeigneten Bewerbern.

    Die Ergotherapeutin berichtete mir, dass es in England ein ambulantes Team geben würde, das fertig diagnostizierte ME-Patienten bis zu fünfmal zu Hause aufsucht, um eine angebrachte Versorgung zu gewährleisten. Die Kosten für dieses Team würde aus Stiftungsmitteln aufgebracht werden.

    Ich hatte bereits ein halbes Jahr in der Klinik gearbeitet, als die Klinikdirektorin zu einem Meeting für die Praxiskonsolenten einlud. Sie wollte mehr über unsere Arbeit wissen. Sie war sehr an dem Thema ME und den Plänen interessiert. Ich sollte innerhalb der nächsten 14Tage ein Budget für das Vorhaben beschaffen. Ich bat Herr Prof. Brubeck um Unterstützung. Nach ca. anderthalb Jahren wurde uns dann ein Budget zur Verfügung gestellt. Natürlich wollten die anderen Abteilungen kein Geld abgeben und schon gar nicht für eine Krankheit, die die meisten nicht interessiert. Aber letztendlich hat uns die Regionsverantwortliche einen kleinen Extrapott zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr wurden die Mittel dann noch mal erhöht.

    Man fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, diese neue Abteilung zu leiten. So wurde ich Leiterin des Zentrums für ME. Ich musste zunächst meine Praxis vermieten und noch einiges vorab regeln. Seit August letzten Jahres arbeite ich vier Tage die Woche und besitze eine 80% Stelle. Zunächst mussten wir eine neue Infrastruktur aufbauen. In dem alten Gebäude gab es vorher nur drei bis sechs Betten je Zimmer. Die Räumlichkeiten mussten innerhalb kürzester Zeit umgebaut und neu verkabelt werden, da es bis dahin weder genügend Strom gab noch Computeranschlüsse. Ich habe dann mit meinem Team, abgesehen von den Ärzten, Möbel aus dem Lager geholt und geschrubbt usw.

    Sie haben viel Eigenleistung investiert?

    Ja. Wir wollten schnell auf die Beine kommen und haben daher auch viele Dinge erledigt, die normalerweise nicht in unserer Verantwortung lagen. Obwohl wir offiziell erst im Dezember Eröffnung gefeiert haben, erhielten wir schon ab Sommer zahlreiche Patienten überwiesen. Anfangs kamen wir auf 75 Überweisungen im Monat. Die Zahl hat sich jetzt auch 45 bis 50 eingependelt.

    Wenn ich richtig gelesen habe verfügen Sie in dem Zentrum über 8 Betten. Wie können Sie die große Nachfrage bewältigen?

    Noch haben wir keine Betten. Wir behandeln unsere Patienten in der Poliklinik. D.h. die Patienten werden untersucht und am gleichen Tag wieder nach Hause geschickt. Sie können bis zu fünf Mal zu uns kommen. Damit es für die Patienten nicht zu anstrengend wird, sind die Untersuchungen in den verschiedenen Fachrichtungen auf zwei pro Tag begrenzt. Unsere Erfahrung zeigt, dass ME-Patienten, wenn man sie überanstrengt, nicht mehr mitbekommen, was man ihnen erzählt, weil sie dann keine Informationen mehr aufnehmen können. Deswegen die Begrenzung der Untersuchungen. Wenn es gar nicht anders geht, quartieren wir Patienten in einem Patientenhotel ein und führen die erforderlichen Untersuchungen an mehreren aufeinander folgenden Tage durch. Das ist aber nicht empfehlenswert und wird daher nur ausnahmsweise zugelassen.

    Patienten, die zu krank sind werden von unserem ambulanten Team zu Hause besucht. Einige Patienten sind nicht transportfähig oder sie sind nach einem Transport nicht mehr in der Lage, sich zu unterhalten. Zu diesen Patienten kommen wir nach Hause. Hier sind unsere Möglichkeiten dahingehend begrenzt, dass wir nur so viele besuchen können, wie wir an einem Tag schaffen, also maximal 100 bis 150 Kilometer von Oslo entfernt. Wir können wegen der großen Nachfrage nur noch Patienten aus unserer Region annehmen. Wir haben einfach nicht genügend Kapazitäten für alle.

    Die norwegische Gesundheitsbehörde begann fast zeitgleich zu untersuchen, welcher Bedarf in der Versorgung von ME-Patienten besteht. In Konsens mit den Patientenorganisationen wurde ein Bedarf für eine Krankenhausabteilung mit bis zu 10 Betten vereinbart. Diese Abteilung soll die schwersterkrankten Patienten besser versorgen, diagnostizieren und andere Krankheiten ausschließen. Speziell bei diesen Patienten ist es schwierig, alle erforderlichen Untersuchungen einzuleiten, wenn sie zu Hause liegen. Auf normale Abteilungen können diese Patienten auf Grund der Intoleranz gegen Lärm, Licht und anderer Beschwerden nicht versorgt werden.

    Ende März 2008 erhielten wir den Auftrag zu prüfen, wie das Vorhaben realisiert werden kann und welche finanziellen Mittel voraussichtlich benötigt werden. Wir mussten erneut Pläne aufstellen. Es lag erneut eine große Menge an Arbeit vor uns. Im Juli erhielten wir dann endgültig den Auftrag, dieses Projekt zu realisieren. Auf der Mai-Konferenz in London (2009) waren wir zwar schon sicher, dass eine Empfehlung für diese Projekt ausgesprochen werden würde, da aber noch kein offizieller Bescheid vorlag, konnten wir noch keine hundertprozentige Bestätigung abgeben.

    Wir sind jetzt dabei, den restlichen Teil auf der von uns belegten Etage umzubauen. Es laufen zurzeit auch die Stellenausschreibungen für das von uns benötigte medizinische Personal.

    Wir benötigen einen Psychiater, einen Neurologen, einen Infektionsmediziner, einen Psychologen und mehrer Krankenschwestern. Der neue Infektionsmediziner wird benötigt, da Herr Prof. Brubeck eigentlich bereits pensioniert ist. Er stellt seine Arbeitskraft noch für zwei Tage in der Woche zur Verfügung. Es ist aber absehbar, dass dies nicht auf Dauer gewährleistet ist.

    Anschließend erhalten unsere neuen Mitarbeiter spezielle Fortbildung und Erläuterungen über die speziellen Anforderungen in der Versorgung ME/CFS-kranker Menschen. Bereits bei der Auswahl des Personals müssen wir auf die besondere Eignung der Mitarbeiter achten.

    Dabei müssen wir insbesondere aufpassen, dass die Bewerber keine präfabrizierte Meinung haben, die völlig quer geht mit dem,, was wir meinen. Das ist natürlich eine große Herausforderung. Wir legen daher großen Wert auf wirklich gute Interviews. Es stellt sich auch die Frage, wie viele Neurologen und Infektionsmediziner überhaupt bereit sind, sich Vollzeit für ME zu engagieren. Wir haben nicht genügend Oberärzte, um selbst auszubilden, wir sind daher auf fertige Spezialisten angewiesen. Es ist vermutlich einfacher, jüngere Ärzte zu gewinnen. Aber gerade jüngere Mediziner möchten in Abteilungen arbeiten, in denen sie ein breiteres Spektrum mit den verschiedensten Herausforderungen erwartet. Es gibt aber bereits heute Ärzte, die für ein Jahr in einer Spezialklinik z.B. zu Epilepsie arbeiten. Vielleicht gelingt es uns, junge Mediziner zu finden, die bereit sind für zwei oder drei Jahre bei uns zu arbeiten und sich danach neu orientieren. Wir hoffen, engagiertes medizinisches Personal zu finden, das nicht denkt, bei ME würde es sich um eine psychische Erkrankung handeln. Dies wäre für unsere Abteilung nicht dienlich.

    Insbesondere bei den schwerstkranken Menschen ist es nicht immer einfach zu unterscheiden, ob eine ernsthafte psychische Erkrankung vorliegt oder diese Menschen an ME erkrankt sind, daher benötigen wir die Psychiater und Psychologen. Besonders, wenn man diese Menschen erst kennenlernt, wenn sie bereits erkrankt sind, muss ausgeschlossen werden, dass keine  psychischen Erkrankungen vorliegen. Anders wäre es, wenn man diese Patienten schon vorher kannte. Dann könnte man anhand des Verlaufes der Erkrankung psychische Krankheiten leichter erkennen.

    Aber wenn man einen ME-Patienten hat, der sehr schwer krank ist, dann ist sein Verhalten vergleichbar mit Patienten, bei denen eine Persönlichkeitsstörung vorliegt.

    Meinen Sie im Vergleich zu depressiv Erkrankten?

    Nein, die werden meist nicht so kataton (in krankhafter Weise mit impulsiven Handlungen u. plötzlichen Bewegungsentladungen einhergehend). Aber es kann sehr viel ernsteren Psychosen ähneln. Und deswegen ist es gar nicht so einfach, wenn man die wirklich Schwerkranken behandelt, mit hundertprozentiger Sicherheit zu diagnostizieren, der hat dieses oder jenes. Deswegen ist es wichtig, Fachleute im Team zu haben, die dann wirklich sagen können, dass bei dem Patienten ein adäquates Verhalten vorliegt, was bei einem psychisch Kranken nicht der Fall wäre. Es ist uns wichtig gegenüber anderen, durch einen Facharzt bescheinigen zu können, dass keine psychischen Ursachen vorliegen. Mit der entsprechenden Erfahrung kann man sehr gut diese Erkrankungen unterscheiden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass manche manipulativ wirken. Sobald sich der Gesundheitszustand verbessert, sind diese Anzeichen aber sofort weg. Diese Auffälligkeiten sind dadurch bedingt, dass man so krank ist, dass man vieles nicht erträgt. Wir werden häufig gefragt, warum wir einen Psychiater brauchen, aber das brauchen wir gerade, um unterscheiden zu können.

     Ich sehe auch ab und zu bei den Überweisungen die wir erhalten, dass da Patienten dabei sind,  die ein Leben lang eine psychiatrische Diagnose gehabt haben. Dann stellen sie fest, es ist doch viel besser eine ME-Diagnose zu haben und keine psychiatrische. Aber es dient der Krankheit nicht, wenn man unter falschen Prämissen eine Diagnose kriegt. Das ist auch das Problem mit den Nice-Guidelines. Die sind so weit gefasst, dass  jeder reinschlüpfen kann. Dadurch werden viele Menschen auch fehlbehandelt, denn fast alle psychiatrischen Patienten sollen gepuscht werden. Die sollen sich mehr anstrengen, als ihnen angenehm ist. Würde man diesen Ansatz bei einem ME-Patienten verfolgen würde dieser noch kränker. Deswegen ist es besonders wichtig, die richtige Diagnose zu stellen.

    Die Bettenabteilung soll daher teilweise auch dazu dienen, eine richtig Diagnose zu stellen, wenn wir im Zweifel sind. Die Abteilung befindet sich in der Universitätsklinik. Wir verfügen künftig über spezielle Patientenzimmer, die schallisoliert sind und die durch spezielle Innenrollos bei Bedarf vollständig abgedunkelt werden können. Bei manchen Patienten müssen besondere Untersuchungen mit speziellen medizinischen Geräten erfolgen. Dann werden die Patienten ausnahmsweise zu den Untersuchungsräumen transportiert. Aber alles, was direkt am Krankenbett erfolgen kann, machen wir vor Ort. Wenn Spezialisten benötigt werden, werden diese ebenfalls ans Bett geholt.

    Wir haben die Möglichkeit, unsere Patienten für zwei bis drei Wochen zu untersuchen. Dadurch brauchen wir nicht alles auf einen Schlag zu machen, sondern wir können zwei Mal die Woche die erforderlichen Untersuchungen veranlassen. Auf Normalstation muss alles zack, zack gehen und die Patienten werden schnellst möglich wieder nach Hause entlassen. Wir können unsere Patienten mit Spezialbetreuung länger auf Station betreuen.

    Werden die Kosten vollständig von der Krankenkasse übernommen?

    Wir haben keine Krankenversicherung in dem Sinne. Bei uns zahlt man einen Teil seiner Steuern für die Krankenversorgung. Die Krankenhäuser werden dann staatlich bzw. über die Regionen finanziert.

    Das Einzugsgebiet für die Bettenabteilung wird das ganze Land sein. Ich gehe davon aus, dass wir die Schwersterkrankten versorgen werden, die zwar schon ganztägig bettlägerig sind, aber einen Transport gerade noch tolerieren.

    Auf der einen Seite ist eine gute Diagnostik wichtig und anschließend eine angemessene Behandlung. Unsere Ergotherapeutin strebt ihren Doktorgrad an. Sie hat eine  kleine Pilotstudie gestartet, um mit qualitativen Methoden von ehemals schwersterkrankten, bettlägerigen Patienten zu erfahren, was diese glauben, mit welchen Maßnahmen ihre Funktionsfähigkeiten wieder verbessert werden konnten und sie wieder reden konnten.

    Ziel dieser Studie ist es, nicht mehr nur auf der Basis von Vermutungen zu handeln, sondern auf gemachten Erfahrungen. Die Betroffenen schildern unter anderem, dass sie irgendwann merken, wie sie wieder über ein bisschen mehr Energie verfügen. Sie berichten auch davon, während der Zeit, in der sie besonders schwer erkrankt waren, sich nicht mehr getraut haben sich zu bewegen. Rückblickend denken einige auch, sie hätten vielleicht schon eher wieder mehr Aktivität versucht, wenn ihnen dafür ein sicherer Rahmen geboten worden wäre.

    Wir versuchen kontrolliert die Tolerierbarkeit wieder zu erhöhen. Am Anfang beginnen wir z.B. damit, das Kopfende für fünf Minuten um 5 Grad anzuheben ein-, zwei-  oder dreimal täglich, je nach dem wie der Patient darauf reagiert. Wir informieren die Patienten dabei vorab darüber, dass sie orthostatisch vollkommen entwöhnt sind und ihre Adern daher nicht mehr  kompensieren. Wir informieren sie darüber, dass es anfangs unangenehm sein wird, dieses Symptom aber nichts mit ME zu tun hat, sondern damit, dass sie über Jahre flach gelegen haben. Wir vermitteln den Patienten dabei auch, dass wir nicht ohne Rücksichtnahme auf die Reaktionen agieren, sondern die Wiederholungsintervalle je nach der Tolerierbarkeit anpassen. Ähnlich gehen wir bei der Lichtempfindlichkeit vor. Die Zimmer sind mit Dimmern ausgestattet. Wir versuchen auszutesten, wie viel nach und nach an Licht wieder toleriert wird.

    Unsere Physiotherapeutin vermittelt den Patienten den Umgang mit Tiefenentspannung. Dabei hat sie die Übungen stark vereinfacht, damit die Instruktionen nicht zu anstrengend werden. Uns haben Patienten immer wieder berichtet, man liege zwar den ganzen Tag in Ruhe, aber dabei würde  man eine wahnsinnige Unruhe verspüren. Diese Unruhe verbraucht viel Kraft, und der Körper kann sich trotz des Ausruhens nicht ausreichend erholen.

    Die Entspannungsübungen sollen dabei helfen, dieses Aufgedrehtsein, egal ob körperlich oder gedanklich, zu beruhigen. Durch die verbesserte Erholung kann man wieder mehr machen, so dass das Hand in Hand geht. Dieser Ansatz setzt sich bei allen Beratungen von Physiotherapie bis Ergotherapie fort. In unseren Copingkursen vermitteln wir daher Alltagsdinge so anzuwenden, dass sie weniger Energie verbrauchen. Die Wäsche auf einer Leine über dem Kopf aufzuhängen ist etwa viermal so anstrengend, als wenn man sie auf einem Wäscheständer in Bauchhöhe aufhängt. Die Wäsche dabei aus einer Wanne auf dem Fußboden aufzuheben ist elfmal so anstrengend als wenn man die Wanne auf einem Tisch in gleicher Höhe zum Ständer stehen hat.

    Wir vermitteln in der Ergotherapie den Patienten, wie aktiv sie tatsächlich sind und machen ihnen bewusst, ihre Aktivitäten mit weniger Anstrengung auszuüben, anders aufzuteilen und dadurch wieder mehr Lebensqualität zu gewinnen und mehr zu schaffen. Durch vorsichtige Provokation soll das Aktivitätsniveau weiter erhöht werden. Dabei testen wir die Grenzen der Patienten und geben aber gleichzeitig die Sicherheit, bei einer Reaktion beim nächsten Mal noch vorsichtiger zu agieren. Dabei muss man wissen, dass eine einmalige Überanstrengung keine langfristige Auswirkung hat. Wenn man aber jeden Tag immer wieder das Leistungsniveau  überschreitet, führt es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes und schadet den Patienten. Wir vermitteln daher Pacingstrategien, um die richtige Balance zu finden.

    Beziehen Sie auch die Angehörigen in den Therapien mit ein?

    Ja, wenn wir mit unserem Ambulanzteam Patienten zu Hause aufsuchen, sprechen wir auch mit den Angehörigen und der verantwortlichen Krankenschwester von der Heimkrankenpflege oder anderen Versorgern. Patienten sind oft nicht in der Lage, viel zu reden. Nach den Rückmeldungen der Versorger können wir die Patienten gezielter befragen.

    So bekommen wir mehr und detailliertere Informationen. Von Patienten erfahre ich Details die jemand, der es nicht selbst erlebt hat, nicht erzählen könnte. Wir können dadurch besser erfahren, was Patienten geholfen hat und was nicht und gewinnen dadurch auch das Vertrauen der Patienten. Diese haben häufig schlechte Erfahrungen gemacht und psychiatrische Diagnosen angedichtet bekommen. Patienten suchen dann auch nach alternativen Therapien, die bei Ärzten auf Unverständnis stoßen. Wir können besser darauf eingehen und dadurch den Patienten ein sicheres Gefühl vermitteln, dass man sie ernst nimmt und respektiert. Diese Alternativen sind nicht alles Blödsinn und können durchaus wirksam sein.

    Den Krankenpfleger vor Ort können wir ebenfalls die Sicherheit vermitteln, dass sie richtig handeln und ihnen Fragen beantworten.

    Also eine Aufklärung vor Ort?

    Genau. Die Patienten werden ernst genommen, gut versorgt und sie erhalten die richtige Behandlung. Wir erleben es leider immer wieder z.B. in Altenheimen, dass der Leiter der Einrichtung die Ansicht vertritt: „Die haben doch alle eine Persönlichkeitsstörung und die muss man zu Aktivität  zwingen.“ usw. Hier sind wir gefragt. Wir klären dann erst einmal auf, dass solche zwanghaften Mobilisierungen zu einer Verschlechterung des Krankheitszustandes führen. Die einen bestätigen wir in ihrer Arbeit und die anderen müssen wir bremsen. Wir erleben beides. Es gibt keine eigenen Termine für Angehörige, aber bei unseren stationären Patienten müssen wir am Anfang mit dem Pflegepersonal und den Angehörigen sprechen, um kompetente Informationen zu erhalten. Bevor wir unsere Patienten wieder nach Hause entlassen, sind weitere Gespräche erforderlich. Unsere Sozialarbeiterin klärt vor Ort die weitere Versorgung. Z.B. klärt sie bei den Gemeinden, dass weitere Hauskrankenpflege und Ergotherapie zur Verfügung gestellt wird. Unsere Patienten werden nicht geheilt entlassen, sondern wir können nur die Aktivierung anstoßen. Zu Hause muss dann dieser Ansatz weiter verfolgt werden. Die Versorger müssen dann wissen, wie man den Patienten weiterhilft und sie müssen Fragen der Patienten beantworten können.

    Ich erlebe es oft, dass Hausärzte sich dahin gehend äußern, dass man da sowieso nichts machen kann, wenn Patienten wieder „komische“ Symptome beschreiben. Meine Erfahrung zeigt aber, dass es wichtig ist diesen Patienten rückzumelden, dass es dabei um typische ME-Symptome handelt und keine andere schwerwiegende Erkrankung dahinter steckt.

    Ein Hausarzt erhält vielleicht den Eindruck, man tut dabei nichts. Doch wir geben den Patienten die nötige Sicherheit, dass die Symptome zu ME gehören und dass da jemand ist, den man befragen kann und bei dem man sicher aufgehoben ist.

    Gibt es in Norwegen schon mehr Hausärzte, die sich mit dem Krankheitsbild gut auskennen?

    Ja. Es hat sich in den letzten Jahren viel getan. Das Interesse an meinen Vorträgen ist groß.

    Es gibt aber leider immer noch Ärzte, die glauben es ist alles nur psychisch. Die Erkrankten bilden sich die Erkrankung nur ein oder sie sind nur faul oder weiß der Himmel, was die noch so rein interpretieren.

    Meine Erfahrung ist, dass ME-Patienten lange Zeit zu viel machen. Und sich mit zu kurzen Erholungsphasen immer wieder zu stark anstrengen und dadurch immer kränker werden.

    Es ist absoluter Blödsinn, diesen Menschen vorzuwerfen, sie wollten nicht arbeiten. Denn gerade diese Menschen waren vor ihrer Erkrankung super aktiv. Sie haben gern voll gearbeitet und waren nebenher noch sportlich engagiert. Diese Menschen legen sich nicht einfach aus Lust und Laune aufs Sofa. Schon gar nicht bei der Aussicht, soviel weniger Geld zur Verfügung zu haben. Es ist unsere Aufgabe, Menschen mit psychischen Erkrankungen von ME-Patienten zu unterscheiden. Denn diese müssen anders als ME-Patienten gepuscht werden. Diese Unterscheidung ist der wichtigste diagnostische Prozess. Wir sehen uns daher die Krankengeschichte an und wie es anfing.  Es gibt so ein paar Kardinalsymptome, wenn die nicht vorhanden sind, muss man auch von anderen Krankheitsursachen ausgehen.

    Dann werden Schwersterkrankte direkt an Sie übergeleitet? Ich muss Ihnen sagen, dass es in Deutschland so ist, dass selbst die Patientenorganisationen zu den Schwersterkrankten in der Regel keinen Kontakt haben. Die meisten besitzen keine Diagnose und verfügen über keine angebrachte medizinische Versorgung. Ähnliches gilt im Übrigen auch bei Kindern.

    Ja, wir sind für Kinder auch nicht zuständig. Dafür ist das Rickshospital verantwortlich und die gehen nicht zu den Kindern nach Hause. Es erfolgt oft auch keine stationäre Versorgung oder man weist Betroffene sogar gleich ab. In unserer Patientenorganisation gibt es einige Engagierte, die regelmäßig viele Schwersterkrankte besuchen und die sich auch gut auskennen, aber sie sind trotzdem Laien. Eine von ihnen ist Ergotherapeutin und Mutter von drei schwersterkrankten ME-Kindern. Sie hat schon viele Betroffene besucht.

    Wir bekommen viele Patienten überwiesen. Viele Ärzte sind froh, dass es unsere Einrichtung gibt, weil sie selbst nicht wissen, wie sie mit ihren Patienten umgehen sollen.

    Wurde das ME-Zentrum bei den Hausärzten vorgestellt?

    Nein. Es hat sich schnell  rumgesprochen, und wir haben auf unserer Website des Krankenhauses über das Zentrum berichtet. In den Zeitungen gab es nur wenige Artikel, aber in einem Blatt des Gesundheitsamtes wurde über uns berichtet. Die meisten Ärzte wissen von uns. Norwegen hat rund vier Millionen Einwohner, da sind solche Meldungen schnell verbreitet. Wir erhalten auf jeden Fall sehr viele Überweisungen. Es ist relativ schnell bekannt geworden. Die Menschen sind ja auch sehr verzweifelt. Sie sind sehr dankbar dafür, dass sie endlich eine Ansprechstelle haben.

    Beispielsweise im Altenheim, wo der Arzt nicht verstanden hatte, wie man den ME-Patienten richtig behandelt, gab es große Auseinandersetzungen mit den Angehörigen. Diese versuchten dem Arzt zu schildern wie es ihrem Bruder geht und wie man ihn richtig versorgt. Das wurde für völlig verrückt betrachtet, weil es ja vollkommen von dem abweicht, was üblicherweise bei anderen Krankheiten als normal gilt. Wo bei anderen Krankheiten der richte Ansatz Training ist, soll man bei ME die Patienten ruhen lassen und pflegen. Das ist für Ärzte, die sich nicht auskennen, völlig unverständlich. Sie sind dankbar dafür, dass sie bei uns Ansprechpartner finden.

    Die Situation ist mit der in Deutschland überhaupt nicht vergleichbar. Es gibt zurzeit so gut wie keine Hausärzte die sich damit beschäftigen.

    Aber, was machen dann die Schwersterkrankten? Bekommen die den keinen Hausbesuch von ihren Ärzten?

    Die Situation bei uns ist sehr unbefriedigend, und leider müssen wir davon ausgehen dass noch immer viele Suizid begehen. Es sind keine Ärzte vorhanden, die sich auskennen. Gerade die Lage in Norddeutschland ist katastrophal. Es gibt einige Ärzte  in Süddeutschland, aber es werden nur Behandlungen angeboten, für die die Patienten die Kosten selbst übernehmen müssen. Für viele bleiben die Behandlungen unerreichbar, weil sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen. Dadurch sind die meisten der 300.000 ME-Kranken in Deutschland ungenügend versorgt.

    Da kann ich die Hausärzte aber nicht verstehen. Wieso zahlt die Krankenkasse nicht, weil man keine Diagnose stellen kann oder wo ist das Problem? Diese Menschen sind doch normal krankenversichert?

    Nur wenige erhalten überhaupt die richtige Diagnose ME/CFS. Häufig bekommen die Betroffenen eine Majore Depression diagnostiziert. Auch bei der richtigen Diagnose gelten  Verhaltenstherapie, körperliche Aktivierung und MAO-Hemmer als evidenzbasiert und damit als richtige Behandlungsansätze.

    MAO-Hemmer auch?

    Ja. Selbst wenn von Ärzten aufgrund einer Epstein-Barr-Virus-Infektion eine Behandlung mit Valcyte empfohlen wird, werden diese Kosten von den Krankenkassen in der Regel nicht übernommen, weil diese Therapie als nicht evidenzbasiert genug gilt.

    Ja, bei uns werden diese Kosten ebenfalls nicht übernommen. Verhaltenstherapie und körperliche Aktivierung bzw. Graded-Exercise-Programme werden von unseren Stellen, die ihren Krankenkassen entsprechen, ebenfalls empfohlen, weil es halt sogenannt evidenzbasiert ist. Wenn man dann aber die Artikel mal richtig ansieht, auf die sich die Evidenz bezieht, stellt man fest, dass viele Probanden keine ME nach den Fukuda-Kriterien haben, sondern entweder die Oxfordkriterien erfüllten oder einfach nur an Neurasthenie erkrankt waren, und das ist ja nun was anderes. Und bei GET ließ man die Probanden über einen Schrittzähler oder einem Hand-PC  einmal die Stunde anklingeln, damit sie die Aktivitäten der letzten Stunde eingaben, dabei  wurde festgestellt, dass bei der Auswertung der Aktivitäten die Probanden zwar etwas mehr trainierten, dafür aber weniger andere Alltagsaktivitäten schafften. Die Totalbelastung hatte sich also nicht geändert. Und von daher ist die Evidenz für GET nicht sehr groß.

    Es gibt kaum gute Studien, bei denen wirklich gute diagnostische Kriterien genutzt worden sind. Aber wir denken, Verhaltenstherapie kann manchmal dafür gut sein, um mit so einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung besser umgehen zu können und für ein besseres Verstehen des Krankheitsgeschehens. Aber nicht für ME per se.

    Unsere Patientenorganisation hat großen Widerstand gegen diese Behandlungsansätze geleistet.  Und die norwegischen Befürworter von GET und Verhaltenstherapie sagen jetzt auch, dass diese Therapien helfen können, die Erkrankung zu meistern. Sie können nicht heilen, aber es kann helfen, dass die Patienten damit besser leben können. Die Verfechter  haben sich also bei uns moderiert.

    Die Akzeptanz leidet sicher auch deswegen, weil Ärzte damit missbräuchlich umgegangen sind. Und deswegen sind die Patientenorganisationen sehr ablehnend demgegenüber.

    Ja,  die Organisationen sind da absolut dagegen. Aber wir machen sowieso nichts in dieser Richtung, wir machen Pacing. Ich war mit unserer Ergotherapeutin auf dem Kongress in Reno, und da haben wir mit ein paar Kongressteilnehmern gesprochen, die Studien über GET und Verhaltenstherapie durchgeführt haben. Es stellte sich raus, dass wenn man diese Studien genauer hinterfragte, es sich eher um Pacing handelte. Die haben nicht GET gemacht!

    Bei GET soll man ohne Rücksichtnahme  auf die Reaktion der Erkrankten das Training wie vorgesehen weiter steigern. Uns wurde aber berichtet, dass in diesen Studien jede Woche evaluiert wurde, um zu erfahren was von den Patienten dann nächste Woche gefordert werden konnte. Und wenn es dann mal nicht ging und deswegen das Programm reduziert werden musste, dann hat man reduziert. So handelte es im Prinzip um Pacing und nicht um GET. Unser durchgeführtes Pacing unterscheidet sich dadurch, dass es mehr individuell von Tag zu Tag angepasst wird.

    Ich denke mir, wenn man nicht mehr kann, dann geht auch nichts mehr.

    Ja, dass geht ja gar nicht. Es ist aber in soweit ein Problem, dass es als GET verkauft wird und dass die Artikel nicht so detailliert beschrieben sind, dass man nachvollziehen kann, was tatsächlich angewendet wurden ist.

    Was sagen sie zu der neuveröffentlichten , von der Anfang dieses Jahres berichtet wurde, nach der 40% der ME-Patienten in ihrer Kindheit traumatisiert wurden?

    Da müsste ich erst recherchieren, welche Diagnosekriterien tatsächlich angewandt worden.

    Sie selbst nutzen für die klinische Diagnostik die Kanadische Falldefinition?

    Man kann die kanadische Falldefinition sehr gut dazu nutzen, um festzustellen aus welcher Gruppe welche Symptome vorliegen. Aber was die „Kanadischen“ zufrieden stellen, stellen auch die Fukuda-Kriterien  zufrieden. Wenn wir forschen, wenden wir die Fukuda-Kriterien an. Aber wir benutzen die Kanadische Falldefinition für uns. Und wenn wir keine volle Übereinstimmung erhalten, dann sind wir schon skeptisch, dann müssen wir schon genauer überprüfen. Bei vielen ist es ja ganz eindeutig. Man lässt die Patienten die Beschwerden erzählen. Wenn Erkrankte keine Schlafstörungen haben, dann sind wir schon skeptisch.

    Es handelt sich dabei in der Kanadischen Falldefinition immerhin um ein Hauptkriterium, und in den Fukuda-Definition ist es nur ein Nebenkriterien.

    Die  Muskelbeschwerden spielen, so weit ich weiß, in der Kanadischen Falldefinition auch eine wesentlichere Rolle als bei Fukuda.

    Bei den kanadischen Kriterien soll man irgendein Schmerz haben, und bei Fukuda soll man entweder Muskel-, Gelenk- oder Kopfschmerzen aufweisen, aber man kann auch ohne auskommen. Es kommt selten auch vor, dass ME-Patienten nicht eines dieser Symptome hat. Bei der „Kanadischen“ soll man mindestens eins von diesen Schmerzformen haben. Die sind etwas  strenger, da sie mehr sortieren und gruppieren. Bei Fukuda kann es passieren, dass man auch mit Depressionen durchkommt. Für uns ist erst einmal entscheidend die verlängerte Latenzzeit bei der Erschöpfung und zweitens die Rekonvaleszenz, die verlängert ist. Es gibt noch ein paar Besonderheiten, die für uns wichtig sind. Ich möchte aber nicht, dass diese öffentlich werden.

    Bereits vor 40 Jahren erfolgte eine Klassifizierung als neurologische Erkrankung. Was glauben Sie, woran liegt es, dass  so viele Ärzte das Krankheitsbild bis heute noch nicht kennen bzw. psychosomatisch einordnen?

    Warum sie es nicht kennen …?

    Wenn Sie in Deutschland zu einem Hausarzt gehen, dann bekommen sie häufig an den Kopf gesagt, diese Krankheit gibt es nicht.

    Also, so schlimm ist es in Norwegen nicht. Da ist soviel Presse gewesen, es ist kaum zu vermeiden, schon mal davon gehört zu haben. Aber ich habe 1996 auch noch nicht davon gehört, und das ist auch noch nicht lange her. Teilweise wird es im Studium kurz unter ferner liefen unter postvirales Erschöpfungssyndrom erwähnt, aber es wird den Studenten nicht erklärt, wie umfassend diese Erkrankung ist. Es wird erzählt, dass es Menschen gibt, die nach einer Infektion einen lang anhaltenden Erschöpfungszustand haben. Aber was es sonst noch bedeutet, daran erkrankt zu sein, erfahren die Studenten nicht.

    Vermutlich fehlt auch die Erläuterung, was lang anhaltend heißt.

    Nein, dass auch nicht. Was heißt Erschöpfung in diesem Zusammenhang? Die Definition besagt, dass das Aktivitätsniveau um mindestens 50 Prozent reduziert ist. Dass sagt einem schon mal etwas. Aber man hat keine weitere Vorstellung vom Krankheitsbild.

    Also ein Fehler in der Ausbildung?

    Es wird nur unter ferner liefen gelehrt und dabei auch so stiefmütterlich behandelt, dass man einfach nicht genug erfährt. Ich nehme an, das ist hier genauso. Ich weiß nicht, wie viel im Studium in Norwegen gesagt wird, die Studenten haben wohl beiläufig etwas darüber gehört, aber ich habe mal gefragt, ob ich mal an der Uni eine Vorlesung zu ME halten sollte. Man sagte mir aber, man habe keine Zeit, um noch umfassend ME zu lehren.

    Es wird aber kommen, nehme ich an. Wichtig ist dabei gute Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2001/2002 wurde in der norwegischen Presse viel über das Krankheitsbild berichtet. Es ließ sich dadurch nicht mehr länger verleugnen. Es dauerte aber dann noch, bis sich das Wissen zu ME/CFS verbreitete.

    Sorgten die Patientenorganisationen bei Ihnen für die Öffentlichkeit oder Ihre Einrichtung?

    Nein, bei uns waren die Patientenorganisationen sehr aktiv. Leider hat diese Öffentlichkeit nur die Versorgungslage der Schwererkrankten verbessert. Leichter erkrankte Patienten (Anmerkung: diese haben eine um mind. 50% reduzierte Leistungsfähigkeit, sind aber noch nicht bettlägerig) kann man die Krankheit in der Regel nicht ansehen. Das Verständnis für diese Patienten ist noch mangelhaft. Medien leben von Sensationsartikeln. In der Presse sind immer nur Bilder mit Erkrankten zu sehen, die Binden vor Augen haben und Ohrenstöpsel tragen und die bettlägerig zu Hause liegen. Man kann die Erkrankung den Patienten in der Regel nicht ansehen. Man sieht die Patienten, wenn sie frisch geschminkt in die Praxis kommen und vorher drei Tage ausgeruht haben, um den Arztbesuch zu schaffen, und die reden dann ohne Punkt und Komma.

    Ein Arzt ist es gewohnt, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Zwar schildern die Patienten ihre Symptome, aber man sollte sich auch einen Eindruck vom Allgemeinzustand machen. Das funktioniert bei ME-Patienten selten, da die Patienten nicht zum Arzt kommen, wenn sie in einer Phase großer Kraftlosigkeit und Schmerzen sind. Der Arzt sieht auch nicht, dass die Patienten nach dem Besuch eine Woche benötigen, um sich davon wieder zu erholen und dabei bettlägerig sind.

    Ich habe kürzlich mit einer Allgemeinmedizinerin gesprochen, die ebenfalls zu ME forscht. Sie erzählte mir, dass sie gelernt hätte Ihre Patienten zu fragen, was es sie kosten würde, zu ihr zu kommen. Eine gute Idee, wie ich finde. Ich erkundige mich nach dem Befinden der letzten Tage, und ich spreche mit meinen Patienten lange genug, dass ich sehe, wie sie wachsweiß oder auch rot geflammt im Gesicht werden und wie sie, wenn man sich genug Zeit nimmt, müde werden. Ich erlebe es auch immer wieder, dass der Blick verschwindet und sich die Patienten nicht mehr konzentrieren können.  Aber die meisten Ärzte haben nur ca. 10/15 Minuten Zeit und können dadurch diese Symptome nicht sehen. Ärzte sind es gewohnt, dass entweder ein Befund vorliegt, man etwas erkennen kann oder der Patient krank aussieht. Wenn das aber alles nicht vorliegt, liegt die Vermutung nahe, dass der Patient arbeitsfrei haben möchte oder  wenn dieser dann berichtet, er wäre zu schwach, um an den Geburtstagen von Freunden teilzunehmen, dass eine Depression vorliegt.

    Bei Verdacht auf Depression gibt einen speziellen Matrixtest.  Vor 10,15 oder 20 Jahren kamen moderne SSRI-Antidepressiva auf den Markt. Die Pharmaindustrie überschwemmte zeitgleich die Behandler mit Schnelltests (nach dem Motto: hat man Depression/Angst). Viele der in den Tests aufgeführten Symptome können, wenn man nicht die Details verfolgt, sowohl als Depressionssymptom als auch als ME-Symptom eingestuft werden. Man kann also viele der Symptome falsch deuten und bei den Patienten irrtümlicher Weise eine Depression diagnostizieren.

    Ich habe eine ME- Patientin, die ist acht Jahre falsch gegen Depressionen behandelt worden und wurde dadurch immer kränker und kränker. Die Patientin hatte zwar dass Gefühl, dass etwas anderes vorliegen müsste, sie ließ sich dann aber auf die Diagnose ein, weil sie dachte, der Psychologe sei schließlich der Experte. Als „gehorsame Patientin“ nahm sie dann die verschriebenen Antidepressiva ein und es ging ihr immer schlechter.

    Wenn man in Deutschland mit einer ME/CFS-Diagnose zum Arzt kommt, hat man schon fast sicher die Diagnose Depression in der Tasche.

    Ja, genau, das ist bei uns teilweise auch noch so. Auch wenn man in Norwegen schon mehr darüber gehört hat, gibt es immer noch Ärzte die meinen, das sei Blödsinn. Ich habe mal  einen Vortrag über ME gehalten, wo ich über die Genese und die Auslöser berichtet habe.

    Ich berichtete über unsere Annahme, dass bei manchen Patienten eine persistierende Infektion vorliegen würde und andere Ergebnisse uns vermuten ließen, dass immunologische Veränderungen und genetische Dispositionen ursächlich sein könnten, und  das lang anhaltender Stress zu einer Schwächung des Immunsystems führte. Aber wenn ich in Norwegen das Wort Stress in den Mund nehme, dann wird sofort an Psychologie gedacht.

    Zu viel Arbeit und/oder Mangel an Schlaf und lang anhaltende psychische Belastungen verschlechtern das Immunsystem. Man ist dann nicht mehr so gut gegen Viren usw. gerüstet und wenn man dann z.B. mit einen Epstein-Barr-Virus infiziert wird, eine genetische Disposition vorliegt und lang anhaltendem Stress ausgesetzt ist, dann kann man an ME erkranken. Man findet bei manchen Erkrankten, wie gesagt, eine persistierende Infektion, die man dann behandeln kann, aber bei vielen findet man keine Auslöser.

    Nach diesem Vortrag kam ein Arzt auf mich zu. Alles was ich gesagt  hätte, würde ihm bestätigen, dass es Angst sei. Er hatte mir überhaupt nicht zugehört, was ich über Fatigue gesagt hatte. Dadurch kam er nach meinen Vortrag zu der Annahme, dass es sich um einAngstleiden handelt. Dabei hatte ich auch über andere Faktoren bei ME berichtet. Wenn die Betroffenen z.B. kein Krankengeld erhalten, weil sie keine Diagnose besitzen, löst man bei den Betroffenen ein Stressmoment aus, und sie werden sehr viel kränker. Unsere Erfahrung zeigt, wenn die Umgebung stabil ist und Erkrankte die Sicherheit haben, eine angebrachte Pflege zu erhalten, bei der sie nicht ständig alles neu erzählen müssen und man ihnen glaubt, führt dass zur Stabilität.

    So eine Ignoranz kann einen aggressiv machen.

    Das ist bei uns auch so. Da hatte ich eine dreiviertel Stunde einen Vortrag gehalten, und er hatte nichts verstanden. Bei solchen Personen lohnt es sich nicht, noch weiter zu diskutieren.

    Man kann vermutlich nicht alle auf den richtigen Weg bringen.

    Nein. Ich bin nicht der Typ, der missionieren will. Entweder sie hören zu, was ich ihnen berichte oder sie lassen es bleiben. Wenn mir die Patienten erzählen, ihr Arzt glaube ihnen nicht, biete ich an, dass mich dieser Arzt anrufen kann. Wenn dieser dazu nicht bereit ist, lege ich den Patienten nahe, den Arzt zu wechseln.

    Wir sind in Deutschland noch weit davon entfernt und unser Weg ist noch lang. Vielleicht haben sie noch einen Tipp für uns. Was müssen wir machen, damit wir auch auf den richtigen Weg kommen?

    Als Patientenorganisationen müssen Sie die Behörden darauf aufmerksam machen. Unsere Patientenorganisationen sind ständig auf die Gesundheitsministerin zugegangen. Es wurden ständig Briefe geschrieben, zu Treffen eingeladen und Informationen zugeschickt usw.

    Viele Verantwortliche aus dem Gesundheitsministerium in Norwegen kannten jemanden mit ME. Ihnen war dadurch bewusst, dass man sich diese Erkrankung nicht nur einbildet. Unsere Krankenhausdirektorin kannte ebenfalls jemanden mit ME. Als dann der Auftrag kam, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, wusste sie aus eigener Erfahrung, dass dringend gehandelt werden muss. Diejenigen, die Menschen mit ME kennen, wissen wie schwer diese Menschen erkrankt sind. Vielleicht gibt es Politiker, die Verwandte oder Bekannte mit dieser Erkrankung haben. An diese müssen sie sich wenden.

     Machen sie politische Lobbyarbeit! Politische Arbeit führt dazu, dass man anfängt das Thema ernst zu nehmen. Für den Aufbau einer angemessenen Versorgung sind ein interessierter Arzt und  entsprechende finanzielle Mittel erforderlich. Es ist nicht so leicht Ärzte zu finden, die bereit sind sich entsprechend zu engagieren. Aus meiner Sicht müssen wir auch noch mehr Ärzte finden, um genügend Kapazitäten anbieten zu können.

    Wenn man sich überlegt, dass Sie eigentlich für einen Tag in der Woche in die Klinik gegangen sind, um Entlastung zu erfahren, dann ist Ihr jetziges Engagement weit davon entfernt.

    Da haben Sie recht. Es war eigentlich geplant, einen Ganztagsjob mit festem Lohn zu bekommen, bei dem ich um vier Uhr Feierabend machen kann. Ich habe jetzt zwar einen festen Lohn, und ich arbeite nicht mehr ganz so viel wie in der allgemeinmedizinischen Praxis, aber ich habe natürlich Unmengen von Überstunden. Ich ende immer irgendwie so.

    Sie sind ein Typ, der Gefahr läuft ME zu bekommen.

    Das stimmt. Neben meiner Arbeit habe ich eine Familie mit vier Kindern. Wenn ich eine Disposition zu ME hätte, wäre ich schon lange daran erkrankt.

    Ich bedanke mich herzlich für das Interview!