Abschnitt A:
Kritische Würdigung des Übersichtsartikels von Peter Henningsen „Das chronische
Erschöpfungssyndrom“
Analyse und Kommentar von
Regina Clos
Dieser Artikel von Henningsen/Martin beruht auf:
-
dem Krankheitsmodell der biopsychosozialen Schule, bei
dem verschiedene Störungsbilder entdifferenziert und vermengt werden - (mehr
dazu hier)
-
einem Verstoß gegen die Bestimmungen der WHO
(Klassifikation ein und derselben Erkrankung unter verschiedene Diagnoseschlüssel der ICD-10)
- (mehr dazu hier)
-
Therapieempfehlungen auf der Basis einer unter Manipulationsverdacht stehenden Studie (der
PACE-Trial) - (mehr
dazu hier)
-
einer Art Anleitung zur „iatrogenen Chronifizierung“
des ME/CFS (mehr dazu
hier)
-
der Beschuldigung von ME/CFS-Spezialisten in Klinik und
Forschung, die richtigen Therapieansätze zu verhindern - (mehr dazu
hier)
-
einer Art Anleitung zur Herstellung einer paradoxen
Kommunikationsstruktur mit dem Patienten - (mehr
dazu hier)
-
der Beschuldigung von Selbsthilfegruppen und
Patientenbewegung, eine wirksame Behandlung der Betroffenen zu verhindern:
- (mehr dazu hier)
-
einer einseitigen Würdigung der vorhandenen Literatur
bei weitgehendem Ignorieren der medizinischen Forschung und entsprechenden
Veröffentlichungen (mehr dazu
hier.)
Schlussbemerkung und
Kommentar
Patientenbericht über eine Begutachtung im Hause Henningsen
Zu 1. Das Krankheitsmodell der
biopsychosozialen Schule - Entdifferenzierung und Vermengung verschiedener Störungsbilder
Das Abstract von Henningsens Artikel beginnt mit
einer Art Leitsatz, der die Grundlage des Krankheitsmodells der
biopsychosozialen Sichtweise zu „CFS“ verdeutlicht:
„Andauernde und
beeinträchtigende Erschöpfung, die durch eine bekannte medizinische Erkrankung
nicht erklärt werden kann, stellt das Kernmerkmal des chronischen
Erschöpfungssyndroms dar.“
Das „Kernmerkmal“
des „Chronischen Erschöpfungssyndroms“ ist demnach ein Merkmal des
Medizinsystems bzw. des Ergebnisses ärztlicher Untersuchungen, aber nicht
der Krankheit: Es kann „durch
eine bekannte medizinische Erkrankung nicht erklärt werden“.
Der Kern dieser Aussage ist:
Wir wissen es nicht, was mit diesen Patienten los ist. Diese
eigentliche Bedeutung, die des Nichtwissens, versteckt sich hinter der Zuordnung
des „CFS“ zu einer größeren „diagnostischen“ Kategorie, die auf dem gleichen
Denkansatz beruht, den
„anderen funktionellen somatischen
Syndromen“:
„Für die
Nähe zu anderen funktionellen somatischen Syndromen spricht die hohe Komorbidität mit anderen, organisch nicht hinreichend erklärten
Körperbeschwerden.“
Diese Tautologie
verdeckt ein Vorgehen, das man in etwa so formulieren
könnte: Wenn wir
Symptome nicht erklären können, wenn wir nicht wissen, warum ein Patient so
massive Symptome hat, die ihn bis zu völliger Bettlägerigkeit lähmen, wenn wir
also eigentlich gar keine Diagnose haben, dann denken wir uns eine Diagnose aus,
deren Kernmerkmal unser Unwissen ist und tun so, als ob das etwas über die
Krankheit aussagen würde.
Diese Nomenklatur für das ärztliche (Noch-)Nichtwissen durchzieht den
gesamten Artikel und spiegelt sich z.B. in Sätzen wie diesem wider:
„Ein „chronisches
Erschöpfungssyndrom“, englisch „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS), ist ein
Beschwerdebild mit anhaltender Erschöpfung, die nicht durch eine klar definierte
organische oder psychische Erkrankung erklärt werden kann und die die
Alltagsfunktionen stark beeinträchtigt. Die Erschöpfung äußert sich in schneller
Erschöpfbarkeit bei geringer körperlicher Anstrengung und/oder bei
konzentrierter geistiger Tätigkeit.“
Was aber rechtfertigt es,
Krankheitsbilder, deren Ätiologie man noch nicht vollständig verstanden hat,
zugleich als
psychische Erkrankung zu klassifizieren? Auch wenn Henningsen später im Artikel
sagt, „CFS“ sei keine psychische Erkrankung, ordnet er „CFS“ im Diagnoseschlüssel der WHO, den ICD-10, unter
„Kapitel
V, Psychische und Verhaltensstörungen“ ein.
Eine solche klare Zuordnung
würde aber implizieren, dass man die Ätiologie verstanden und nachgewiesen hat,
aber das hat Henningsen gerade ausgeschlossen: CFS sei ein „Beschwerdebild“
(er spricht nicht von einer Krankheit oder Störung), das „nicht durch eine klar
definierte organische oder psychische Erkrankung erklärt werden kann“.
Das erscheint als in sich widersprüchlich.
Schon hier wird ein grundlegendes Problem des
Krankheitsmodells der biopsychosozialen Schule deutlich:
Alle Störungen, die
„durch
eine bekannte medizinische Erkrankung nicht erklärt werden können“,
bezeichnen sie mit Begriffen somatoforme Störung (F45.-),
Somatisierungsstörung (F45.0), multiple psychosomatische Störung (F45.0),
undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1), Hypochondrische Störung (F45.2),
Somatoforme autonome Funktionsstörung
(F45.3), Neurasthenie (F48.0).
Alle diese Diagnosen beruhen auf subjektiven
Beurteilungen dessen, der sie einem Patienten zuordnet, nicht aber auf
evidenzbasierten Studien oder diagnostischen Verfahren, die, wenn es um
organische Korrelate von Symptomen oder Ursachen einer Krankheit wie ME/CFS
geht, vom Autor unabdingbar eingefordert werden.
Mit einer solchen Argumentation suggeriert Henningsen eine
diagnostische Sicherheit, die angezweifelt werden kann. Die Kategorie der „somatoformen Störungen“,
in die er das „CFS“ einordnet, könnte man auch bezeichnen als eine Art „Abfallkategorie“,
die sich nicht - wie bei allen anderen Erkrankungen und den
entsprechenden diagnostischen Kategorien - aus den Merkmalen der unterschiedlichen
Krankheiten selbst speist, sondern schlicht aus der Tatsache, dass sie mit „organisch
nicht hinreichend erklärten Körperbeschwerden“
verbunden sind.
Bei welcher Krankheit aber sind
die Körperbeschwerden „organisch hinreichend geklärt“?
Rechtfertigt diese Ungeklärtheit, die auch bei zahlreichen, wenn nicht der
Mehrheit der anderen Krankheiten vorliegt, diese automatisch den „Psychische(n) und Verhaltensstörungen“
zuzuordnen? Und was heißt „hinreichend“?
Hinreichend wofür? Ist die Medizin nicht ein ständig fortschreitendes Gebiet der
Erkenntnis, auf dem das, was heute gilt, morgen schon Makulatur sein kann?
Auf der Basis einer solchen Argumentation
hätte man
in früheren Zeiten, als man tatsächlich noch nicht viel über die Ursachen von
Krankheiten wusste, alle Krankheiten als psychische oder
Verhaltensstörung betrachten müssen. Wäre man dann den Empfehlungen der biopsychosozialen Schule gefolgt, hätte man auch niemals eine medizinische
Erforschung derselben verfolgt, ja verfolgen dürfen. Mit dieser Logik werden medizinische Forschung
und Behandlung tendenziell überflüssig - und vielleicht ist das auch die Logik
hinter dieser Unlogik: wo immer wir im heutigen Medizinsystem nicht
weiterwissen, wo wir nichts diagnostizieren und behandeln können, wo immer wir
nicht forschen können oder wollen - aus welchen Gründen auch immer -, soll die
„Psychosomatik“ herhalten. Nicht das Medizinsystem, die Erforschung, die
Diagnose des vorliegenden Krankheitsbildes sind unzureichend, sondern der
Patient hat „Psychische und Verhaltensstörungen“.
Es ist merkwürdig, dass Henningsen die
umfangreiche biomedizinische Forschung und Literatur in seinem Artikel nicht
verarbeitet hat, denn diese enthält zahlreiche und zunehmend konsistente
Hinweise auf die Ätiopathologie des ME/CFS (nicht Chronischer Erschöpfung). Auch
wenn sich aus der bisherigen Forschung noch keine Ursachenklärung und keine
Behandlung im Sinne einer Heilung ergibt, haben die erkrankten Menschen doch
Anspruch auf eine Behandlung und die Gewährung der gesellschaftlichen
Unterstützung, die bei zahlreichen anderen, ebenfalls ursächlich ungeklärten und
nicht heilbaren Krankheiten gewährt wird.
Dass Henningsens Darstellung des
„CFS“ sehr reduziert
und einseitig sein muss, folgt bereits aus der Länge seines
Übersichtsartikels: er erhebt den Anspruch, auf 6 Seiten - inklusive
Literaturangaben - eine Übersicht über ein so komplexes Krankheitsbild wie
ME/CFS oder auch „CFS“ geben zu können.
Dokumente wie die
Broschüre von Anthony Komaroff
oder der kürzlich erschienene 42-seitige
Bericht der
US-amerikanischen National Institutes of Health über die Tagung zum Stand
der Wissenschaft und Forschung zu ME/CFS und viele andere ausführliche Schriften
(z.B.
Byron Hyde) können den
Anspruch erheben, eine Übersicht zu geben, nicht aber ein auf eine Sichtweise
reduziertes, die biomedizinische Literatur weitgehend außer Acht lassendes Papier. Es gibt in
keiner Weise den Stand
der Wissenschaft zu ME/CFS wieder.
Dokumente wie die beiden genannten von
Komaroff und den NIH (und es
gibt derer viele mehr) werden der Erkrankung und dem Stand der Wissenschaft viel
eher gerecht. Sie beruhen auf dem Wissen, dass es sich um eine
Multisystemerkrankung handelt
und geben dementsprechend die verschiedenen Forschungsrichtungen wieder, die
weiterverfolgt werden müssen, um die notwendigen Differenzierungen und
Untergruppenbildungen des ME/CFS vorzunehmen und daraus differenzierte und
wirksame Behandlungsansätze zu entwickeln.
Eine Entdifferenzierung, wie
sie von Henningsen und anderen Anhängern der biopsychosozialen Schule
vorgenommen und in diagnostische Kategorien gepresst wird, kann weder in der
Erforschung der Ätiologie und der Krankheitsmechanismen des ME/CFS noch
hinsichtlich seiner Behandlung weiterhelfen.
Beispielhaft
für die Bemühung, bei ME/CFS
Untergruppen nach Symptomatik und Anomalien zu bilden, das vorhandene Wissen der
internationalen Forschergemeinde zu bündeln und zu koordinieren ist das Open Medicine Institute mit seiner
MERIT-Initiative. Hier findet eine dem Stand der
Wissenschaft entsprechende Differenzierung und systematische zukunftsorientierte
Forschung statt.
Die Entdifferenzierungstendenz des Henningsen'schen
Artikels hingegen kann bei einer Multisystemerkrankung Forscher, Kliniker und
Patienten gleichermaßen nur in eine Sackgasse führen. Sie kommt auch in der
Vermengung der verschiedenen Krankheitsdefinitionen - der Fukuda-Definition und
der Oxford-Definition zum Ausdruck:
„Häufige Anwendung finden auch
die ätiologisch neutraleren Oxford-Kriterien, welche sowohl mentale als auch
physische Fatigue, nicht jedoch weitere körperliche Symptome, erfordern.“
Die Kanadische
Konsensdefinition und die Internationale
Konsensdefinition werden in dem Artikel überhaupt nicht erwähnt, dabei ist
die Kanadische Konsensdefinition mittlerweile - in Kombination mit der
Fukuda-Definition - der Standard der ME/CFS-Forschung sowie des diagnostischen
Vorgehens in der ärztlichen Praxis.
Dass
mit der Fukuda- und der Oxford-Definition ganz unterschiedliche
Patientengruppen erfasst werden, bei denen die Ätiologie und die
Krankheitsprozesse in der Tat völlig unterschiedlich sein können, wird nicht
problematisiert, sondern als Vorteil dargestellt - sie sind „neutraler“. D.h. nach Henningsens
Argumentationslinie könnte man ohne
die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung alle „Chronisch Erschöpften“
unter diese Kategorie subsumieren, angefangen von Menschen, die aus den unterschiedlichsten
Gründen „chronisch müde“ sind, bis hin zu schwersterkrankten,
bettlägerigen ME/CFS-Patienten - und sie passen allesamt in
die Grobkategorie der
„Psychische(n) und Verhaltensstörungen“.
Aus der Anwendung der Fukudakriterien bzw. der
Oxfordkriterien in epidemiologischen Studien ergeben sich vollkommen andere Prävalenzzahlen,
und zwar um den Faktor 10 höhere bei Anwendung der Oxfordkriterien. Henningsen
schreibt dies selbst:
„Das CFS im engeren Sinne ist
relativ selten (max. 0,5 % in der Bevölkerung), chronische Erschöpfung insgesamt
ist ca. 10mal häufiger.“
Liegt da nicht der Schluss nahe, dass es sich um ganz
unterschiedliche Gruppen von Krankheiten bzw. Patienten handeln muss? Und dass man
sie folglich auch nicht mit den gleichen von Henningsen empfohlenen Therapieansätzen
- kognitiver Verhaltenstherapie verbunden mit ansteigendem körperlichen Training
- „behandeln“ kann?
Diese mangelnde Problematisierung und Entdifferenzierung
entspräche in etwa einem Vorgehen, bei dem man alle Krankheiten, die
mit dem Symptom Husten verbunden sind, als „chronisches Hustensyndrom“
bezeichnen würde, und bei dem man dann die vorhandenen Möglichkeiten der
Differenzialdiagnostik in z.B. Lungenephysem, Lungenkrebs, Lungenentzündung,
Bronchitis, grippaler Infekt, Tuberkulose, Rauchvergiftung etc. unter den
Tisch fallen lassen und allen Patienten statt der entsprechenden
medikamentösen und/oder chirurgischen Behandlung ein wenig Entspannungs- und
Atemtherapie und einen ordentlichen Spaziergang an der frischen Luft verordnen würde.
„Chronische Müdigkeit“ ist ein Symptom, das bei unzähligen, ätiologisch
vollkommen unterschiedlichen Krankheiten vorkommt, und es ist, obwohl der
irreführende Name „Chronic Fatigue Syndrome“ dies nahelegt, auch
nicht das Hauptcharakteristikum des ME/CFS. Das Leitsymptom des ME/CFS
ist, neben einer Reihe neurologischer und immunologischer Symptome, die
Zustandsverschlechterung nach Belastung. D.h. alle Symptome der Patienten
werden durch körperliche und/oder geistige Belastung verstärkt. Diese
Verstärkung tritt sowohl unmittelbar als auch mit zeitlicher, 24-48-stündiger
Verzögerung auf und kann zu schweren Rückfällen führen. Für schwer Erkrankte
kann es bereits zu massiven Rückfällen kommen, wenn sie 10 Minuten im Bett
aufsitzen, für leichter Erkrankte ist die Belastungsgrenze entsprechend höher.
Die Psychiaterin
Eleanor Stein hat kürzlich in einem Artikel geschrieben:
"Die Zustandsverschlechterung nach
Belastung (unmittelbar danach oder verzögert), das pathognomonische Symptom der
ME, gibt es gewöhnlich bei keiner psychiatrischen Störung: die meisten
psychiatrischen Patienten fühlen sich nach geistiger oder körperlicher Belastung
besser statt schlechter." ("Postexertional malaise (immediate or
delayed), the pathognomonic symptom of ME, is unusual in any psychiatric
condition: most psychiatric patients feel better rather than worse after mental
or physical exertion.")
Diese Belastungsgrenze lässt sich nach aller Erfahrung auch
nicht durch die von Henningsen und Anhängern der biopsychosozialen Schule
empfohlene ansteigende körperliche Belastung erhöhen. Das haben sogar Studien
von Anhängern des biopsychosozialen Modells ergeben (s.u.). Alle Erfahrung zeigt, dass
ansteigende körperliche Belastung die - in der Tat noch nicht hinreichend
geklärten - Krankheitsmechanismen anheizt und dass das Modell der
Dekonditionierung, hervorgerufen durch eine angeblich übermäßige Schonhaltung
der Patienten auf der Grundlage ihrer "falschen Krankheitsüberzeugungen" nicht
greift.
Zu 2: Verstoß gegen die
Bestimmungen der WHO
Henningsens folgende Behauptung widerspricht
expliziten Vorgaben hochrangiger Mitarbeiter der WHO sowie
den Feststellungen des Deutschen
Instituts für Medizinische Dokumentation und Information.
„In den offiziellen
diagnostischen Manualen ICD-10 und DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual,
American Psychiatric Association) werden chronische Erschöpfungssyndrome
unterschiedlich behandelt. Die ICD-10 bietet verschiedene
Klassifikationsmöglichkeiten im Kapitel der psychischen Störungen (F48.0
„Neurasthenie“, s. u.) sowie im Kapitel der neurologischen Störungen (ICD-10,
G93.3, postvirales Ermüdungssyndrom/benigne myalgische Enzephalomyelitis bzw. in
der deutschen Version ICD-10-GM explizit als G93 Chronisches
Müdigkeitssyndrom).“
Im Henningsen'schen Aufsatz findet sich gleich zu Beginn
eine Formulierung, die suggeriert, ME/CFS (einschließlich anderer Namen, die man
dem gleichen Krankheitsbild gegeben hat) sei identisch mit Neurasthenie:
„Zu den
Begriffen, mit denen ein Beschwerdebild mit Leitsymptom Erschöpfung erfasst
wird, gehört neben dem CFS die Neurasthenie, die myalgische Enzephalomyelitis
(ME), das postvirale Fatigue-Syndrom, das chronische Erschöpfungsssyndrom bei
Immundysfunktion, die „Royal Free disease“, die „Iceland disease“ u. a. m.“
Der Begriff der Neurasthenie wurde 1869 von einem
George Miller Beard
in dem Buch
„American Nervousness“ geprägt.
In diesem Buch lesen wir weitere
bahnbrechende Erkenntnisse wie etwa, die amerikanische Rasse sei in Gefahr, wenn
man jungen Mädchen eine naturwissenschaftliche Bildung zukommen ließe, denn dann
würde ihr Uterus schrumpfen und ihre Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigt. (Lesen Sie hierzu
Mary Schweitzers
Ausführungen)
Die
Vorgaben der WHO verbieten es, ein und dasselbe Krankheitsbild unter
mehrere Diagnoseschlüssel zu fassen. Dr. B. Saraceno
von der WHO hat
die
Klassifikation
der WHO in einem
Schreiben vom
16. Oktober 2001
klargestellt:
Henningsen müssten diese Vorgaben der WHO
bekannt sein, ebenso wie die Tatsache, dass Deutschland sich verpflichtet hat,
sich an die Vorgaben der WHO und die ICD-10 zu halten. Ungeachtet dessen lesen
wir in seinem Artikel:
„Das
chronische Erschöpfungssyndrom wird auch zu den funktionellen somatischen
Syndromen gezählt, die generell charakterisiert sind durch bestimmte, durch
Organpathologie nicht ausreichend erklärbare Körperbeschwerden,...“
„Wenn eine
Vielzahl von organisch unerklärten Körperbeschwerden neben der chronischen
Erschöpfung vorliegt, kann auch die Diagnose einer Somatisierungsstörung (ICD 10
F45.0) vergeben werden.“
Weiterhin
wird ignoriert, dass in der o.g. Version der ICD-10 unter dem Punkt Neurasthenie
(F48.0) explizit die Benigne myalgische Enzephalomyelitis [postvirales
Müdigkeitssyndrom] (G93.3)
ausgeschlossen wird.
Ebenso werden Unwohlsein
und Ermüdung (R53)
explizit aus der Kategorie der somatoformen
Störungen ausgeschlossen.
Durch die
oben geschilderte Vermengung verschiedener
Krankheitsbilder und Störungen wie ME/CFS, Chronische
Müdigkeit und chronische Erschöpfung infolge
unterschiedlicher Störungen und/oder sozialer
und/oder psychischer Vorbedingungen und den
Versuch, sie allesamt in eine Kategorie zu pressen,
können die Vorgaben der WHO nicht eingehalten
werden. Zudem werden Vermengung und
Entdifferenzierung den unterschiedlichen
Krankheitsbildern, d.h. den davon betroffenen
Menschen nicht gerecht und bieten damit auch
keine geeignete Vorlage für jeweils angemessene
Therapieansätze.
Beachten Sie
hierzu auch:
|
Zu
3: Therapieempfehlungen auf der Basis einer unter Manipulationsverdacht stehenden Studie zur Therapie des ME/CFS (der PACE-Trial)
Die Behandlungsempfehlungen des
biopsychosoziale Modells nach Wessely finden wir auch bei Henningsen wieder:
„Für die
Therapie des CFS bestehen die besten Wirkungsbelege für Psychotherapie in Form
kognitiver Verhaltenstherapie sowie für gestufte körperliche Aktivierung.“
Sie entsprechen auch den
„allgemeinen Handlungsempfehlungen“ der neuen
AWMF-S3-Leitlinie
„Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen
und somatoformen Körperbeschwerden“, die unter Leitung von Henningsen als Leitlinienkoordinator revidiert und 2012 neu
herausgegeben wurden.
Begründet werden diese Empfehlungen wie folgt:
„Die klarste
Evidenz gibt es in Metaanalysen und zahlreichen Einzelstudien derzeit für die
Wirksamkeit sowohl einer psychotherapeutischen Behandlung des CFS als auch einer
gestuften körperlichen Aktivierung.“
Sodann beruft er sich auf die
PACE-Studie, die diese
Evidenzbasierung ganz wesentlich begründen würde. Hier
können Sie erfahren, wie in dieser Studie die Zahlen manipuliert und der nicht
vorhandene Therapieerfolg von kognitiver Verhaltenstherapie und Graded Exercise
Therapie als Erfolg dargestellt wurde.
Wenn man sich das Zahlenwerk der PACE-Studie genauer
ansieht, wird klar, dass die Patienten mit keiner der getesteten Therapieverfahren auch
nur irgendeinen signifikanten Fortschritt erzielt haben. Nach einem Jahr
Behandlung mit Graded Exercise konnte die so behandelte Gruppe im Vergleich zu
anderweitig behandelten Gruppe in 6 Minuten gerade mal 20 Schritte mehr laufen,
blieben jedoch auch mit dieser „Besserung“ weit hinter der Leistungsfähigkeit
eines Gesunden zurück.
Der angebliche
Fortschritt beruht auf einem weiteren Zahlentrick - man hat im Verlauf der Studie die Zielmarke
für einen Behandlungserfolg so herabgesetzt, dass sie unter der Marke lag, die die Zugangsvoraussetzung
zur Teilnahme der Studie war. Somit bestand grundsätzlich die Möglichkeit,
Patienten, denen es nach Abschluss der Studie schlechter ging, in die
Kategorie „erfolgreiche Behandlung“ einzusortieren.
Diese Zahlenspiele müssen Henningsen bei der Durchsicht der
Studie entgangen sein, denn sonst wäre ihm klar, dass man daraus keine
Therapieempfehlungen für kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes
körperliches Training (Graded Exercise) ableiten und dies als die
evidenzbasierte Behandlung anpreisen kann.
Aus dem Versäumnis, die fehlende Evidenzbasis für kognitive
Verhaltenstherapie (CBT) und Graded Exercise (GET) zu erkennen, leitet sich dann
auch folgende Aussage Henningsens ab:
„Für
immunologische und infektiologische Therapieansätze fehlen eindeutige
Wirksamkeitsnachweise.“
Tatsächlich ist jedoch für
die PACE-Studie
keinerlei „wissenschaftliche Evidenz für entsprechende
Wirksamkeit“ gegeben.
Abgesehen von zahlreichen Studien mit vergleichbarem
Ergebnis zeigen auch
Umfragen unter fast 5000 Patienten über kognitive Verhaltenstherapie und Graded
Exercise Therapie, dass beide Ansätze im besten Falle nichts nutzen, in vielen
Fällen den Patienten sogar schaden, teilweise in erheblichem Ausmaß. Malcom
Hooper schreibt in seinem
Kommentar zur
Verleihung
des Maddox-Preises an Simon Wessely:
„Es gibt reichliche
Belege aus zahlreichen Umfragen von ME/CFS-Patientenorganisationen unter fast
5000 Patienten, aus denen hervorgeht, dass Simon Wesselys bevorzugte
psychologische Interventionen der „kognitiven Restrukturierung“ (kognitive
Verhaltenstherapie) wirkungslos und dass Graded Exercise Therapie nicht
akzeptabel und manchmal absolut schädlich ist.“
Eine Aufzählung der Umfragen finden Sie in
deutscher Sprache hier.
Eine Auflistung von Studien, die die
Unwirksamkeit bzw. Schädlichkeit der empfohlenen Behandlungsansätze belegen,
finden Sie z.B.
hier.
Warum, so fragt man sich, ignoriert Henningsen alle Belege
für die mangelnde Verlässlichkeit und die gezielte Manipulation der PACE-Studie und
die Beweise für die Unwirksamkeit und Schädlichkeit der von ihm empfohlenen
Therapien? Warum werden in neu überarbeiteten Leitlinien Therapien
empfohlen, die nach Aussagen so vieler Patienten und nach Erkenntnissen
zahlreicher Studien über die schädlichen immunologischen und neurologischen
Auswirkungen von Graded Exercise Therapie offensichtlich dem hippokratischen Eid
zuwiderlaufen, nämlich primär dem Patienten
nicht zu schaden?
Eine mögliche Antwort darauf ergibt sich aus den
Schilderungen vieler Patienten mit ME/CFS, die z.B. mit ihren privaten Kranken-
und Berufsunfähigkeitsversicherungen - teils vor Gericht - um Krankengeld und
Berufsunfähigkeitsrenten streiten: Sie verlieren ihre Prozesse regelmäßig mit
dem Verweis auf die angebliche Harmlosigkeit ihrer Beschwerden und die angeblich
wirksamen Therapieformen, wie sie von Experten wie Henningsen, Hausotter u.a.
doch nachgewiesen sei.
Regelmäßig werden sie zu Gutachtern
geschickt, die von Haus aus Psychiater und Neurologen sind, die keine Kenntnisse
über die biomedizinischen Anomalien des ME/CFS haben und die sich an Leitlinien,
Lehrwerken und Fortbildungstexten der biopsychosozialen Schule orientieren. In
der Regel werden aufgrund dessen die Ansprüche der kranken Menschen per
Gutachten abgewiesen. Immer wieder schildern die Patienten, dass sie darüber
hinaus in psychiatrische
Behandlungen und in psychosomatische Kliniken gezwungen werden, in denen sie
„aktiviert“ werden.
Dass sie dafür körperlich viel zu schwach sind, bleibt
unberücksichtigt und wird der angeblichen Dekonditionierung und den
dysfunktionalen Krankheitsvorstellungen der Patienten zugeschrieben. Man zwingt
sie, die für ME/CFS charakteristische Zustandsverschlechterung nach Belastung
und teilweise eine erhebliche Verschlechterung ihrer langfristigen Prognose in
Kauf zu nehmen, und zwar mit der Drohung, ihnen ab sofort den Lebensunterhalt, d.h. das
Krankengeld zu entziehen. Eine beispielhafte Schilderung finden Sie
unten.
Entsprechende Schilderungen über Streitigkeiten mit der
Deutschen Rentenversicherung und nicht privaten Krankenkassen gibt es in
Patientenforen zu Hauf. Berater in Selbsthilfeorganisationen hören täglich
vergleichbare Geschichten. Die Grausamkeiten, die Existenzängste, die
aufgezwungenen Verschlechterungen des Gesundheitszustands der Patienten, die
finanzielle Not von Menschen, die teilweise gar keine Zahlungen mehr erhalten
oder denen man zustehende Leistungen kürzt, werden von den Anhängern der
biopsychosozialen Schule möglicherweise nicht wahrgenommen.
Häufig bieten die Lehren der biopsychosozialen Schule in
der Alltagspraxis von Ärzten, Krankenkassen, Rentenversicherungen, privaten
Berufsunfähigkeitsversicherungen, Arbeitsämtern etc. eine Steilvorlage, um den
Patienten Simulation, Hypochondrie oder mangelnden Willen, gesund zu werden, zu
unterstellen. Sie werden benutzt als Rechtfertigung für Einsparmöglichkeiten im
Gesundheits- und Sozialwesen.
Zu 4: Anleitung zur
iatrogenen Chronifizierung
Henningsens Krankheitsmodell in Kurzfassung:
„Die Ätiologie des CFS
ist umstritten. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf virale, immunologische
oder andere somatische Ursachen; Veränderungen der Stressachsen sind als
biologische Korrelate anzusehen. Frühkindliche Traumatisierung sind ein
Risikofaktor.“
Auch wenn es Infektionen als Auslöser
gäbe, so betont er: „...mit einer
solchen Infektion allein erklärt sich aber nicht die Chronifizierung [13].“
Diese Chronifizierung sei die Folge verschiedener Faktoren,
etwa Stress, der durch psychologische Faktoren ausgelöst und unterhalten würde
oder „Überdiagnostik“ seitens
der Ärzte, eine übermäßige Schonhaltung der Patienten und durch Selbsthilfegruppen
und das Internet gestärkte dysfunktionale Krankheitsvorstellungen. Tatsächlich
über Labortests gefundene Abweichungen seien von daher bedeutungslos - nur
„Korrelate und nicht Ursache der
Erschöpfungserkrankung“.
„Frühkindliche
Traumatisierungen (sexuell, körperlich, emotional) scheinen dagegen ein
ätiologisch relevanter Faktor für die Entstehung eines CFS zu sein,...“
Wenn es sich um Kinder und
Jugendliche mit ME/CFS handelt, müssen Ärzte, Gutachter, Schul- und Sozialämter
schließen: Kinder und Jugendliche, die
ME/CFS haben, werden von ihren Eltern wahrscheinlich traumatisiert (sexuell, körperlich,
emotional) und müssen deshalb aus den Familien herausgenommen und richtig
therapiert werden: mit Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen
Training.
Ein solcher Fehlschluss kann zu fatalen, traumatischen Folgen für die betroffenen Familien führen, zu
Gerichtsbeschlüssen, mit denen den Eltern das Sorgerecht entzogen wird, die
Kinder aus den Familien herausgenommen und zwangsweise für sie schädlichen
Therapien unterzogen werden. Dass dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit
ist, sondern eher die Regel, bestätigen nicht nur zahlreiche Berichte aus
Deutschland, sondern auch das, was Nigel Speight und viele andere aus
Großbritannien und den USA berichten.
Suche nach organischen Krankheiten - Gefahr der
„iatrogenen Chronifizierung“
Bei den diagnostischen Empfehlungen finden wir folgende
Aussage:
„Wie schon
gesagt muss zur Stellung der Diagnose CFS ausgeschlossen werden, dass eine
organische Erkrankung vorliegt, die die chronische Erschöpfung erklären kann.“
ME/CFS (nach den Fukuda-, den Kanadischen und den
Internationalen Kriterien) ist eine organische Erkrankung. Von daher
enthält dieser Satz einen Widerspruch in sich bzw. impliziert erneut, dass „CFS“
keine organische Erkrankung sei. Folgerichtig leitet sich daraus ab, dass der
Arzt über eine minimale Labordiagnostik hinaus nicht nach organischen Korrelaten
für die ME/CFS-Symptome suchen darf, denn sonst bestünde die Gefahr der „iatrogenen“, also einer durch
ärztliches Handeln herbeigeführten Chronifizierung:
„Wichtig
sind frühzeitige Einbeziehung psychosozialer Faktoren in die Diagnostik,
Vermeidung iatrogener Chronifizierung und Fixierung auf rein organische
Ursachensuche sowie therapeutisch Motivierung zu gestufter Aktivierung und
Psychotherapie.“
Gleichzeitig beruft sich Henningsen auf die
Fukuda-Kriterien, die besagen, dass CFS eine Ausschlussdiagnose sei, dass also
alle Erkrankungen, die die Symptomatik erklären könnten, vor der Diagnose eines
CFS ausgeschlossen werden müssen. Dies ist aber mit der empfohlenen
minimalen Diagnostik nicht oder nur schwer möglich.
Die meisten Leser haben nicht die Zeit,
sich in die Grundlagen eines solchen Artikels einzuarbeiten und sehen wahrscheinlich bei
der vorhandenen Reputation des Autors auch gar keine Notwendigkeit, diese zu
hinterfragen, selbst wenn immanente Widersprüche offensichtlich sind. Sie richten sich schlicht nach den Handlungsanleitungen, die am
Schluss gegeben werden:
„Konsequenz
für Klinik und Praxis
Ätiologisch
und phänomenologisch ist nach gegenwärtigem Wissensstand die Einreihung des CFS
in die funktionellen somatischen Syndrome gerechtfertigt, für die insgesamt ein
bio-psycho-soziales Verständnis für Diagnostik und Therapie handlungsleitend
sein muss.“
Ob sich diese Handlungsanleitung aus dem vorher
Geschriebenen logisch ableitet oder ob sie auf Widersprüchen oder gar Manipulationen
der zugrunde gelegten Studien
beruht, interessiert dann nicht mehr.
Von der Gefahr der „iatrogenen Chronifizierung“
Folgt ein Arzt oder Psychiater der Henningsen'schen Logik
und seinen Handlungsanweisungen, so wird er jedem Patienten mit Verdacht auf
ME/CFS sagen: „Sie haben
keine organische Krankheit, weil wir nichts finden, also ist es somatoform =
psychisch bedingt = mit kognitiver Verhaltenstherapie und körperlichem Training
zu behandeln“.
Das bringt den Patienten in eine absurde Situation:
er weiß aus alltäglicher Erfahrung, dass er zumindest auch und vorrangig
eine körperliche Krankheit hat. Abgesehen davon, dass er dem Arzt oder
Psychiater widersprechen muss - was jede Arzt-Patient-Beziehung stark belastet - , muss er als Patient nun beweisen, dass er
eine körperliche Erkrankung hat - und nicht der Arzt. Das aber kann er selbst
nicht. Er selbst
ist ja kein Arzt, kein Labormediziner. Also muss er zum nächsten Arzt gehen. Er
kommt leicht in eine Situation, die die selbst von ME/CFS betroffene Ärztin
Mary
Schweitzer so zusammenfasst:
„WE ARE ASSUMED GUILTY AND MUST PROVE OURSELVES INNOCENT.“
„Wir werden für schuldig gehalten und müssen unsere Unschuld beweisen“
Geht der Patient dann zum nächsten Arzt - nicht nur, um
einen „Beweis“ für seine Krankheit zu bekommen, sondern vorrangig, um eine
wirksame Behandlung zu bekommen, mit der er seine Gesundheit wiedererlangen kann
- , wird er des Arzthoppings beschuldigt und erfüllt nach dem biopsychosozialen
Krankheitsmodell ein weiteres Kriterium der oben angeführten Psychischen und Verhaltensstörungen.
Durch Arzthopping wolle er seine falschen Krankheitsüberzeugung bestätigt
bekommen. Das sich aus der
Verzweiflung des Patienten, nicht gehört zu werden und keine Hilfe zu bekommen,
notwendig ableitende Verhalten wird als Bestätigung für die angeblich psychogene Natur seiner Erkrankung
und als Chronifizierungsgefahr gewertet.
Das Denken in den Kategorien des biopsychosozialen Modells
lässt den Gedanken gar nicht zu, dass der Patient
verzweifelt versucht, wieder gesund zu werden. Stattdessen wird sein Verhalten
so interpretiert, dass er sich seine Krankheit nur einbilde, vielleicht ein
Simulant sei, der es sich in der sozialen Hängematte bequem machen möchte und
deshalb nach einem Arzt suche, der ihm seine „dysfunktionalen Krankheitsüberzeugungen“ bestätigt.
Auch die
Schwäche des Patienten, die er so zentral beklagt, wird als selbstinduziert
gewertet: die Patienten würden sich zuviel schonen und seien deshalb dekonditioniert und schwach.
In diesen Denkmustern führen sie ihre
Krankheit also selbst herbei und chronifizieren sie, selbst wenn am Beginn irgendeine Infektion
vorgelegen haben mag.
Und hier schließt sich der Kreis, ein Teufelskreis im
Denken der biopsychosozialen Schule, der in
der Tat zur iatrogenen Chronifizierung der Erkrankung führt, wenn der Patient nicht
auf jemanden trifft, der die Krankheit behandeln kann.
Das aber ist extrem unwahrscheinlich, weil 1. die
Krankheit noch nicht genügend erforscht ist, um daraus Behandlungsansätze
abzuleiten, die an den Ursachen angreifen und nicht „nur“ eine Linderung
der Symptome herbeiführen, 2. es nur eine Handvoll Ärzte gibt,
die sich mit ME/CFS auskennen und diese dann häufig auch nur privat abrechnen,
d.h. der Patient sich eine Behandlung dort weder finanziell noch kräftemäßig leisten
kann, 3. weil vorhandene Behandlungsansätze etwa mit Rituximab, Valganciclovir
oder Ampligen nicht oder nur in den seltensten Fällen von den Kassen ersetzt
werden.
Also geben viele die Erwartung auf, im Medizinsystem Hilfe
zu finden und versuchen folglich, sich selbst zu helfen, über Selbsthilfegruppen
und das Internet. Das aber wird von Henningsen und anderen Anhängern der
biopsychosozialen Schule wiederum als
Beweis für die psychogene Natur ihrer Erkrankung gewertet. Der verzweifelte
Versuch, sich selbst zu helfen, wenn dann doch offensichtlich im Medizinsystem
keine Hilfe zu erwarten ist, wird gewertet als negativer prognostischer
Faktor, der zur Chronifizierung insofern beitrüge, als er die Patienten in
ihrer falschen Krankheitsüberzeugung stärke und von den „richtigen“ Therapien (CBT/GET)
abhielte.
Tatsächlich sind es aber weder die Ärzte, die
ME/CFS-Patienten ordentlich zu diagnostizieren und zu behandeln versuchen, noch
die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und/oder Internetrecherchen, die zu einer
Chronifizierung des ME/CFS führen, sondern die fehlende medizinische Versorgung,
die unzureichende Finanzierung von Forschung, die Diffamierung und teilweise
auch Sanktionierung von Ärzten, die
sich um die angemessene Behandlung der Patienten bemühen, die Diffamierung der
Patienten selbst und der Zwang, sich meist schädlichen Behandlungen (Graded
Exercise Therapie) zu unterziehen, die die Krankheitsmechanismen anheizt und die
Patienten oft so krank hinterlässt, dass die Prognose über Jahre hinweg massiv
verschlechtert wird. (Siehe dazu eine Aufzählung von Studien, die dies belegen:
http://www.cfs-aktuell.de/februar12_7.htm)
Die Lage der Patienten wird also durch die geschilderten
Zirkelschlüsse und blinden Flecken vollkommen ver-rückt. Es ist eine Art Doublebind: die Patienten
können es nur falsch
machen, sie werden in eine ausweglose Lage gebracht (abgesehen von der oft
immanenten Ausweglosigkeit der Erkrankung als solcher). Die Menschen werden auf
vielfache Weise traumatisiert, durch die Krankheit und den Verlust der Kontrolle
über den eigenen Körper und das eigene Leben, aber auch durch das Unverständnis
und die mangelnde Hilfe durch das Gesundheitssystem.
Ein weiterer Mechanismus, der die Betroffenen
marginalisiert und diskriminiert, ergibt sich aus Folgendem: wenn die Patienten, die schwer krank und nicht
mehr arbeitsfähig sind, die monate- und jahrelang verzweifelt versuchen, in ihr altes Leben
zurückzukehren und ihren früheren Gesundheitszustand wiederherzustellen und dabei oft solange
ihre Schwäche, ihre zahlreichen Symptome
ignorieren und weitermachen, bis sie vollkommen zusammenbrechen und die Prognose
dadurch dann in der Tat sehr schlecht wird, daran „verrückt“ werden, wenn sie wütend,
verzweifelt, depressiv und „schwierig“ werden, so wird das wiederum als Beweis
für die angeblich psychogene Natur der Erkrankung genommen.
Oder gar als „Beweis“ für ihre angebliche Gefährlichkeit -
gerade hat der britische Psychiater Simon Wessely, renommiertester Vertreter des
biopsychosozialen Modells, kürzlich einen
Preis für seinen Mut
bekommen hat, trotz ständiger „Todesdrohungen“ seitens der Patienten an seiner „Wissenschaft“ festzuhalten.
Die Denkmuster des biopsychosozialen Modells führen demnach
alle Beteiligten in eine Sackgasse, Ärzte, Psychologen, Sozialsysteme und Patienten gleichermaßen.
Die Hauptleidtragenden
sind dabei selbstverständlich die Patienten und ihre Angehörigen.
Zu
5: Beschuldigung von ME/CFS-Spezialisten in Klinik und Forschung, die
richtigen Therapieansätze zu verhindern
Auch Ärzte und Wissenschaftler auf dem Gebiet des ME/CFS,
die die biomedizinischen Anomalien dieser Krankheit erforschen und Patienten
entsprechend zu behandeln versuchen, geraten durch das Denken der
biopsychosozialen Schule in eine absurde Lage. Sie werden beschuldigt, sie
würden durch „somatisierendes“ Verhalten zur
„iatrogenen Chronifizierung“
der Erkrankung beitragen und bildeten ein
„therapeutisches Hindernis“
auf dem Weg der Zuführung zur „richtigen“ Behandlung, das heißt mit
kognitiver Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training.
„Während man
früher glaubte, dass die stark auf körperliche Ursachen fixierte Einstellung der
Patienten ein wesentliches therapeutisches Hindernis sei, zeichnet sich jetzt
immer mehr ab, dass das diagnostisch und therapeutisch rein auf noch so
unwahrscheinliche körperliche Ursachen ausgerichtete „somatisierende“ Verhalten
ärztlicher Behandler ein mindestens ebenso relevantes Problem darstellt.“
Ärzte, die einen ME/CFS-Patienten medizinisch weiter untersuchen, nachdem sie
mit den Routinetests keinen Befund erheben konnten, werden per se beschuldigt,
sie seien ein „therapeutisches Hindernis“ und
hätten es zu verantworten, wenn durch
„unnötige
redundante somatische Diagnostik 'nur zur Beruhigung' ... die Voraussetzungen
für einen günstigeren Verlauf deutlich größer“ werden.
Das ist, psychologisch betrachtet, eine paradoxe
Mitteilung, an Arzt und Patient gleichermaßen. Würde man eine solche
Aufforderung zum Unterlassen weiterer Differential- und Facharztdiagnostik bei
anderen Krankheitsbildern als therapeutisch richtiges Handeln darstellen, wäre
u.U. der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt.
Ein „günstiger Verlauf“ ist es
demnach, wenn der Patient
aufgibt, nach biomedizinischen Ursachen seiner Beschwerden zu suchen, selbst
glaubt, die Ursache seiner massiven Beeinträchtigungen liege in ihm selbst, in
seinem Verhalten, in seiner „Psyche“ und dementsprechend den Therapieempfehlungen von Henningsen und
den Leitlinien folgt.
„Wie schon
gesagt muss zur Stellung der Diagnose CFS ausgeschlossen werden, dass eine
organische Erkrankung vorliegt, die die chronische Erschöpfung erklären kann.“
Wie aber kann
man ausschließen, dass eine organische Erkrankung vorliegt, wenn die
medizinische Diagnostik gleichzeitig verboten und als Chronifizierungsgefahr
angeprangert wird? Zudem impliziert eine solche Aussage, dass
CFS keine organische Erkrankung und von daher mit organischer Differentialdiagnose
auch nicht zu erfassen sei und
es deshalb auch keine den Anomalien/Infektionen entsprechende medikamentöse Therapie geben könnte.
„Es besteht
ein iatrogenes Chronifizierungs- und Fixierungsrisiko darin, zu lange immer neue
organische Differenzialdiagnostik auch exotischerer Art durchzuführen, ohne die
Möglichkeit eines CFS zu bedenken und Anamnese und Therapie in diese Richtung zu
lenken.“
Als exotisch betrachtet er alles, was über die von ihm empfohlene Diagnostik
hinausgeht:
-
„Basales
Blutbild inkl. Entzündungsmarker
-
Leber-
und Nierenfunktionswerte
-
Schilddrüsenfunktionswerte
-
Blutzucker
-
Kreatinkinase
-
Screening für Glutensensitivität
-
Kalziumspiegel
-
Serumferritinspiegel (nur bei Kindern und Jugendlichen)“
Mit diesen Untersuchungen ist keine der für ME/CFS immer
wieder nachgewiesenen Anomalien zu erfassen, so dass der Arzt sich selbst die
Begründung für seinen Zirkelschluss schafft: Es liegt keine organische
Erkrankung vor, also muss der Psychiater her. Und wenn ich selbst daran zweifle
und dennoch weitere Untersuchungen veranlasse, dann bin ich schuld daran, wenn
es dem Patienten noch schlechter geht.
So gerät auch der Arzt durch das Denken der
biopsychosozialen Schule in eine paradoxe Situation, in der er es eigentlich nur
falsch machen kann - einmal ganz abgesehen davon, dass er mit der Verordnung von
„Überdiagnostik“ Gefahr läuft, sein Budget zu überschreiten und die verordneten
Untersuchungen am Ende selbst bezahlen zu müssen.
Es wundert nicht, dass bei einem solchen Vorgehen das
Verhältnis zwischen Arzt und Patient „schwierig“ wird - etwas, das in Schriften
der biopsychosozialen Schule in einem weiteren Zirkelschluss als
Charakteristikum der Patienten und als Beleg für die psychogene Natur ihrer
Erkrankung gewertet wird.
„Schwierig“ wird die Arzt-Patient-Beziehung auch durch die
Aufforderung zur Täuschung des Patienten:
Zu 6:
Anleitung zur Herstellung einer paradoxen Kommunikationsstruktur mit dem Patienten
Um die Patienten von ihrem Irrglauben und seinen falschen
Krankheitsüberzeugungen abzubringen, sie litten einer organischen Erkrankung,
empfiehlt Henningsen, eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ mit ihnen herzustellen.
„Diagnostik
und Differenzialdiagnostik des CFS erfordert die gezielte Erfassung somatischer
und psychischer Symptome und Befunde, ungezielte Überdiagnostik ist zu
vermeiden. Für die diagnostische Haltung ist ein Ernstnehmen der Beschwerden
unabhängig von der somatischen Befundlage von zentraler Bedeutung.“
(Hervorhebung R.C.)
Man solle die Patienten demnach einerseits „ernst“ nehmen, andererseits keine weitergehende
„ungezielte Überdiagnostik“ vornehmen. Das aber ist ein Widerspruch in sich,
denn keine weitergehende medizinische Diagnostik vorzunehmen bedeutet, den
Patienten mit seinen massiven Beschwerden nicht ernst zu nehmen. Man könnte das
umgangssprachlich auch als Heuchelei oder Täuschung bezeichnen. Stattdessen
solle man sie dann Psychotherapie und körperlichem
Training zuführen - und man solle ihnen nicht die Diagnose CFS geben, weil
„sich
das potentiell negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung
schlechter auf die Prognose auswirkt“.
Psychiater und Neurologen, die dem Krankheitsmodell der
biopsychosozialen Schule folgen und sich weigern, die medizinische Literatur zu
ME/CFS wahrzunehmen, könnten in der Tat nur eine „ungezielte
Überdiagnostik“ vornehmen. Denn für eine gezielte Diagnostik muss
man wissen, wonach man suchen muss. Wenn man das hingegen weiß,
wenn man sich auskennt mit den charakteristischen Anomalien des ME/CFS,
ist tatsächlich nur eine relativ eingeschränkte, gezielte Diagnostik nötig, um diese
Anomalien bei einem
Patienten festzustellen und daraus eine Therapie abzuleiten, die die Symptome
zumindest lindern, wenn auch nicht beseitigen kann.
Die Täuschung besteht also in mehrfacher Hinsicht: 1. der
Patient wird nicht entsprechend seinem massiven Beschwerdebild weiterer
(gezielter) medizinischer Diagnostik zugeführt, geschweige denn, einer entsprechenden
Behandlung. 2. Es soll ihm die seiner Erkrankung entsprechende Diagnose nicht
gesagt werden. 3. Dieses Vorgehen wird als „Ernstnehmen“ bezeichnet. 4. Es wird
suggeriert, dass es nicht die mangelnde Diagnostik und die dementsprechend
fehlende Behandlung sei, die die Prognose verschlechtert, sondern der Patient
selbst, der eine weitergehende Diagnostik und Behandlung fordert, sowie vor allem das Internet und die Selbsthilfegruppen, die ihn in
seinen falschen Krankheitsüberzeugungen stärken würden.
Dass hiermit auch der Arzt nicht ernst genommen wird und
man ihn geradezu auffordert, seiner ärztlichen Pflicht nicht nachzukommen, ist
ein weiteres Merkmal dieses Krankheitsmodells und dem aus ihm folgenden
therapeutischen Vorgehen.
Jeder Versuch des Patienten, den verheerenden Auswirkungen dieser
Krankheit zu entkommen (von Arzt zu Arzt zu rennen, sich trotz massiver
Einschränkungen solange zur Arbeit zu schleppen, bis ein völliger Zusammenbruch
dies schließlich verhindert, Rat bei Selbsthilfegruppen
und im Internet zu suchen) wird im Denkschema der biopsychosozialen Schule zum psychiatrischen Symptom und
zum Beweis für das
Vorliegen von
„Psychische(n) und Verhaltensstörungen“.
Ein solches Vorgehen trägt alle Merkmale paradoxer
Kommunikation:
„Besonders
wichtig ist die Haltung, mit der mit einem Patienten mit Verdacht auf CFS
umgegangen wird. Den Patienten mit seinen Beschwerden auch dann ernst zu nehmen
und ihm das zu signalisieren („kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für
Sie ist“), auch wenn sich keine klar definierte organische Ursache feststellen
lässt, ist für den Aufbau einer tragfähigen Behandlungsbeziehung sehr viel
günstiger als die implizite Haltung „wer nichts klar Organisches hat, der hat
nichts“. Wenn zusätzlich unnötige redundante somatische Diagnostik „nur zur
Beruhigung“ unterbleibt, sind die Voraussetzungen für einen günstigeren Verlauf
deutlich größer.“
Statt klar zu sagen, was er letztlich denkt - nämlich
„wer nichts
klar Organisches hat, der hat nichts“
- soll der Arzt Verständnis
vorgaukeln:
„kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für Sie ist“.
Solche Sätze machen es dem Patienten schwer, zu durchschauen, welches
Verständnis der Arzt tatsächlich von seiner Erkrankung hat und die Absurdität
der Aussage
„wer nichts
klar Organisches hat, der hat nichts“
zu thematisieren - und
damit zu versuchen, der paradoxen Kommunikation durch Metakommunikation, oder
zumindest „Metadenken“ zu entkommen. Es ist offensichtlich, dass es zahlreiche
Gründe dafür geben kann, dass der Arzt nichts Organisches findet - und dass
er auch nichts finden kann, ergibt sich aus den oben geschilderten Anweisungen
zu einer eingeschränkten und ungeeigneten Testung des Patienten.
Wie sich Henningsen den
„Aufbau einer tragfähigen Behandlungsbeziehung“ mit einem Patienten
vorzustellen scheint, kann man an den Schilderungen eines solchen
ermessen, der nach langen Versuchen, seinem ME/CFS zu entkommen, schließlich zur
Begutachtung an der TU München in der von Henningsen geleiteten Abteilung
landete.
Lesen Sie den Bericht hier.
Er ist paradigmatisch für unzählige Berichte von Patienten,
die von Rentenversicherern, Krankenkassen und Arbeitsämtern unter der Drohung
des Entzugs ihres Lebensunterhalts zu einer psychiatrischen Begutachtung und
psychologischen Behandlungen mit kognitiver Verhaltenstherapie und Aktivierung
gezwungen werden. Dieser oft mit existentiellen Bedrohungen verbundene Zwang, an
diesen Therapieansätzen teilzunehmen, bezeichnet Henningsen als „therapeutische
Motivierung zu gestufter Aktivierung und Psychotherapie“. Das Wort „therapeutisch“ bekommt hier eine ganz spezielle, eine
geradezu paradoxe Bedeutung.
Patienten mit ME/CFS haben aufgrund des im Medizinsystem
verbreiteten Glaubens an die scheinbar schlüssigen Aussagen des biopsychosozialen
Modells keine Chance, einer verharmlosenden
Diagnose im Sinne des Vorliegens von
„Psychische(n) und Verhaltensstörungen“ zu
entgehen. Medizinische Gutachten werden, selbst wenn sie von renommierten
Universitätskliniken kommen, in der Regel ignoriert und lediglich als Beweis für
das Vorliegen von ärztlicherseits bestätigten, falschen Krankheitsvorstellungen
und als Symptom einer Neurasthenie oder somatoformen Störung gewertet.
Die Ansprüche der Patienten an Leistungsträger werden
regelhaft abbegutachtet. Den Patienten wird unter existenzieller Drohung
Psychotherapie, der Aufenthalt in psychosomatischen Kliniken und körperliches
Training aufgezwungen.
Unterwerfen sich die Patienten der erzwungenen ambulanten
oder stationären Psychotherapie und dem körperlichen Training (was regelhaft nichts nützt und die Patienten
oft noch kränker macht), werden sie anschließend dennoch häufig als arbeitsfähig
entlassen, obwohl sich ihr Zustand dadurch noch verschlechtert hat. In ihren
Akten finden sie, das bestätigen unzählige Berichte von ME/CFS-Patienten, bei
der Entlassung dann eine psychiatrische Diagnose aus der Abteilung
Psychische(n) und Verhaltensstörungen in ihren Akten, die sie in der sozialen Realität als Simulanten und Drückeberger stigmatisiert.
So verläuft der „Aufbau
einer tragfähigen Behandlungsbeziehung“
nach Henningsen.
Die Erfahrung zeigt, dass den Patienten auf diese Weise
nicht geholfen wird. Stattdessen erleiden sie im Namen von angeblich
helfender Medizin teils schwere „iatrogene“ Traumatisierungen, „iatrogene“ Pathogenisierungen
und eine „iatrogene“ Chronifizierung ihrer Erkrankung. Sie geraten in einen
Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die Beschreibung Henningsens, wie eine „tragfähige
Behandlungsbeziehung“ aufgebaut werden soll, liest sich wie eine
Anleitung zur Herstellung einer klassischen
Doppelbindung, eines Double-Bind im Sinne
Watzlawicks und
anderer Autoren wie
Gregory Bateson und
Ronald D. Laing.
„Die klassischen Beispiele einer
Doppelbindungskonstellation beziehen sich auf eine Situation, in der sich die
betroffene Person (Opfer) in einer abhängigen Position befindet, in der
Anpassung geboten ist und in der sich berechtigte Interessen und
Grundbedürfnisse an dominante Bezugspersonen richten, im Negativfall jedoch
nicht angemessen befriedigt werden, ggf. mit Scheinalternativen
(umgangssprachlich mitunter auch Zwickmühle genannt) beantwortet werden und ein
Verlassen der Situation nicht möglich ist.“
(Aus: Wikipedia über Doppelbindungen)
Die paradoxe oder auch schizophrene Mitteilung besteht
darin, dem Patienten einerseits zu sagen, ich will Dir helfen, andererseits
Therapieformen anzubieten, von denen der Patient weiß, dass sie unsinnig oder
gar schädlich sind und er ihnen aufgrund seiner Schwäche gar nicht folgen kann.
Der Patient befindet sich in einer abhängigen Position und
kann die Doppelbindung nicht auflösen. Der Patient ist in jeder Hinsicht
existentiell abhängig, denn er sucht beim Gegenüber Hilfe, seinen nicht mehr
funktionierenden Körper entweder wieder zum Funktionieren zu bringen oder ihm,
wenn das nicht möglich ist, wenigstens den gesellschaftlichen Schutz zum
Überleben zu verschaffen - etwa durch Krankschreibung oder ein entsprechendes
Gutachten zur Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.
Wenn der Patient versucht, den paradoxen Mitteilungen durch
Metakommunikation zu entkommen, indem er z.B. den impliziten Unterstellungen und
Handlungsanweisungen widerspricht, bestätigt er, was das Gegenüber als Kriterium
für seine angeblichen
Psychische(n) und Verhaltensstörungen betrachtet: mangelnde
Krankheitseinsicht, dysfunktionale Krankheitsüberzeugungen, übermäßige
Schonhaltung, eine selbst herbeigeführte Chronifizierung durch Inaktivität und
daraus folgender Dekonditionierung in der Folge einer anfangs harmlosen
Infektion oder Störung.
Den Patienten gelingt es u.a. auch deshalb regelhaft nicht,
die Doppelbindung durch Metakommunikation aufzulösen, weil sie die Situation in
ihrer Angst und Verwirrung und mit dem krankheitsbedingten „Brainfog“ nicht
durchschauen, weil ihnen die passenden Informationen fehlen und vor allem, weil
sie in einer abhängigen Position sind. Denn wenn sie sich wehren, werden sie
durch Schuldzuschreibungen, Drohungen des Entzugs des Lebensunterhalts und
unangebrachte und zudem stigmatisierende „Diagnosen“ bestraft.
Die häufig schwerkranken Patienten beklagen, dass Ärzte und
Psychiater, die der biopsychosozialen Schule folgen, oft keinerlei Bereitschaft
zur (professioneller) Einfühlung, zu professionellem Mitleid und zu elementarer
Wahrnehmungsfähigkeit haben. Sie verstehen nicht, wie ein Arzt oder Psychiater
glauben kann, eine „tragfähige
Behandlungsbeziehung“ aufbauen und einen therapeutischen Erfolg erzielen
zu können,
indem sie die Patienten bekämpfen, in Angst und Schrecken versetzen, ihnen den
Lebensunterhalt zumindest drastisch kürzen, wenn nicht gar ganz entziehen, sie
stigmatisieren, in paradoxe Kommunikationsmuster verwickeln und am Ende
bescheinigen, dass man sie
fortan weder medizinisch untersuchen noch ernst nehmen darf?
Um an solchen Erfahrungen, die infolge der weiten
Verbreitung der Ideen der biopsychosozialen Schule eher die Regel denn die
Ausnahme sind, nicht zu verzweifeln und psychisch zu erkranken, muss man eine äußerst
robuste, resiliente psychische Ausstattung haben.
Die Patientin/der Patient, deren/dessen Schilderung über
eine Begutachtung im Hause Henningsen Sie
unten lesen können, schilderte, dass sie/er durch eine scherzhafte Bemerkung
der Paradoxie zu entkommen versuchte: nachdem mehrere Psychologen vier Stunden
lang mit zahlreichen psychologischen Tests ihr/ihm weder eine psychische Störung
noch eine frühkindliche Traumatisierung „nachweisen“ konnten (die sie als
Bestätigung für die Verdachtsdiagnose Neurasthenie suchten), scherzte sie/er, ob
sie denn nun noch weitersuchen wollten, bis sie etwas finden würden und ob ein
geklautes Pausenbrot vom Schulhof in der 1. Klasse dazuzählen würde? Daraufhin
wurde sie/er mit dem Satz, sie/er dürfe das nicht ins Lächerliche ziehen, wieder
in die Schranken der paradoxen Kommunikation verwiesen.
Die Handlungsalternativen des Patienten führen alle nur
weiter ins gesundheitliche, finanzielle und soziale Verderben – der Patient kann
es also nicht richtig machen. Das sind die klassischen Zutaten für eine
Traumatisierung – in diesem Fall einer iatrogenen, also durch ärztliches Handeln
herbeigeführten Traumatisierung.
Da sich Patienten mit ME/CFS wiederholt und über Jahre
hinweg immer wieder in solchen paradoxen Kommunikationsmustern wiederfinden (sie
werden gespeist durch die in Leitlinien, Lehrbüchern und Fortbildungstexten
verbreiteten Vorstellungen der biopsychosozialen Schule, die der Mehrheit der im
Gesundheits- und Sozialwesen tätigen Menschen als Handlungsanleitung dienen),
können sich tatsächlich psychische Störungen entwickeln und schließlich chronifizieren. Es
wird also nicht nur die Krankheit der Patienten, das ME/CFS, iatrogen
chronifiziert (durch Nichtbehandlung und schädliche Therapien), sondern es
werden auch iatrogene Traumatisierungen und deren Chronifizierung gesetzt.
„In Extremfällen, wenn die Kommunikation
sehr häufig durch solche Doppelbotschaften gekennzeichnet ist, kann dies beim
Adressaten schwere psychische Störungen nach sich ziehen.“
(a.a.O.)
Es ist verwunderlich, dass Neurologen und Psychiater, zu
denen ME/CFS-Patienten regelhaft geschickt werden, diese seit langem bekannten
und z.B. von Paul Watzlawik ausführlich beschriebenen pathologischen
Kommunikationsmuster nicht erkennen, wenn sie mit ME/CFS-Patienten (und
sicherlich auch anderen Patienten mit Multisystemerkrankungen) umgehen. Es ist
verwunderlich, dass sie die hier vorherrschende paradoxe Kommunikation selbst
nicht durchschauen und sich ihrer darüber hinaus in ihrer ärztlichen Praxis im
Sinne der Ausübung von Macht, aber nicht im Sinne der Heilung des Patienten
bedienen. Zumal sie selbst ja auch einen gewissen Leidensdruck durch die
Begegnung mit Multisystemerkrankten erleben zu scheinen - werden diese Patienten
bzw. deren Behandlung doch immer wieder als „schwierig“ beschrieben.
Während sich bei der Erstellung eines Gutachtens im Auftrag
der Versicherungsindustrie durch einen Arzt/Neurologen/Psychiater für beide
Parteien eine Win-Win-Situation ergibt, (die Ansprüche des Versicherten werden
mit Hilfe des Gutachtens abgewiesen und der Gutachter erhält eine nicht
unbeträchtliche Summe von der Versicherung für sein Gutachten), gilt für den
begutachteten Patienten in der Regel:
„Der Zwangscharakter und die
„Illusion der Alternativen“ in einer Doppelbindung schaffen für ihn eine „Lose/Lose-Situation“
(engl.: to lose = verlieren).“
(a.a.O.)
Aber nicht nur bei Begutachtungen im Auftrag von
Institutionen und Unternehmen, sondern auch in der ganz „normalen“
Arzt-Patient-Begegnung kann der Patient der Lose-Lose-Situation nicht entrinnen,
wenn derjenige, an den er sich mit der Bitte um Hilfe wendet, den Vorstellungen
und Handlungsanweisungen der biopsychosozialen Schule folgt.
Zu 7: Beschuldigung von
Selbsthilfegruppen, eine wirksame Behandlung zu verhindern:
Selbsthilfegruppen und entsprechende Internetseiten, oft
die letzten Zufluchtsorte der verzweifelten Patienten, sind nach den
Vorstellungen der biopsychosozialen Schule ein großes therapeutisches Hindernis,
denn sie würden lediglich die falschen
Vorstellungen der Patienten stärken, es handele sich um eine
„organische, unheilbare Erkrankung“.
Dass dies die alltägliche Realität von weltweit geschätzt 17 Millionen
Betroffenen sein könnte, wird dabei offenbar nicht in Betracht gezogen.
„Patienten,
die von sich selbst denken, dass sie an einem CFS leiden, haben eine schlechtere
Prognose als solche, die für ihre Erschöpfung nicht dieses Label verwenden [14]
– ein Unterschied, der viel mit den Erwartungen zu tun hat, die an dieses im
Internet, aber z. B. auch von Selbsthilfegruppen geknüpft werden (z. B.
„organische, unheilbare Erkrankung“). Es sollte daher immer abgewogen werden, ob
im Einzelfall das Mitteilen dieser diagnostischen Bezeichnung einen Vorteil für
den Patient bringt, da damit Klarheit und auch soziale Unterstützung verbunden
ist, oder ob sich das potentiell negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden
Prophezeiung schlechter Prognose auswirkt.“
Demnach sind „Klarheit
und auch soziale Unterstützung“ ein Nachteil, weil sie sich
„potentiell
negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung schlechter [auf die] Prognose auswirk[en]“.
Das Mitteilen der Diagnose „CFS“ und die
Hinwendung zu Selbsthilfegruppen und entsprechenden Internetseiten (wie z.B.
dieser hier) würde zudem die Prävalenz des ME/CFS erhöhen - das könne man in den Ländern sehen, in denen
die Patientenbewegung stark sei:
„Auf
kulturelle Unterschiede weisen beispielsweise die im Vergleich zu Deutschland
höheren Prävalenzraten in Großbritannien hin. Eine Erklärung dafür kann in der
gesellschaftlich verankerten Akzeptanz des CFS als diagnostische Entität gesehen
werden, welche sich auch in den größeren Aktivitäten von Selbsthilfegruppen
niederschlägt.“
Dieser Satz ist grammatikalisch unklar, kann aber zweierlei
bedeuten: wenn die Selbsthilfegruppen Erfolg in ihren Bemühungen haben, die
Akzeptanz des CFS in der Gesellschaft zu verankern, dann erhöht
das die Prävalenzraten. Die Schlussfolgerung: es sind die Selbsthilfegruppen,
die die Patienten krank machen. Oder der Satz bedeutet: weil die Akzeptanz z.B.
in Großbritannien größer ist, sind die „Aktivitäten“
der Selbsthilfegruppen stärker. Die implizite Schlussfolgerung könnte lauten: da
die Aktivitäten der Selbsthilfegruppen sich negativ auf die Prognose der
Erkrankten auswirken, ist es besser, die gesellschaftliche Akzeptanz des
Krankheitsbildes zumindest einmal nicht zu fördern.
Interessanterweise gibt es aber für Deutschland überhaupt
keine Prävalenzsstudie, die einen Vergleich der Prävalenzraten zwischen
Großbritannien und Deutschland ermöglichen würde. Es gibt also keine
evidenzbasierte Grundlage für diese Argumentation.
Wie auch immer der obige Satz zu verstehen sein mag -
Henningsen macht klar, welchen zerstörerischen Einfluss „Selbsthilfegruppen
und andere Aktivisten“ haben:
„Die Frage
nach der angemessenen Therapie des CFS ist dabei allerdings ebenso wie die Frage
nach der Ätiologie nicht nur eine neutrale Frage nach der entsprechenden
wissenschaftlichen Evidenz, sondern auch Gegenstand teils heftiger
Auseinandersetzungen unter Beteiligung von Selbsthilfegruppen und anderen
Aktivisten (vgl. [7] und weitere Artikel im BMJ vom 25.6.2011).“
Dies impliziert, dass diese „Selbsthilfegruppen
und Aktivisten“ die „entsprechende
wissenschaftliche Evidenz“ nicht neutral und sachlich beurteilen, sondern
„heftige Auseinandersetzungen“ inszenieren, die der
Sache eben nicht angemessen sind, sondern unsachgemäß um die Anerkennung einer „organische(n),
also legitime(n) Ätiologie“ kämpfen:
„Korrespondierend
zum Kampf um eine organische, also „legitime“ Ätiologie setzen sich die
entsprechenden Aktivisten für organisch ansetzende Therapien ein.
Psychotherapeutische Verfahren werden von ihnen nicht grundsätzlich abgelehnt,
allerdings nur in Form einer Anpassung des Aktivitätsniveaus an Energiereserven
in der weiter oben erwähnten sogenannten Adaptive Pacing Therapy (APT, s. u.) –
allerdings entspricht dies im wesentlichen einem fortgesetzten Schonverhalten.“
Pacing ist jedoch nach allen Erfahrungen der Patienten die
wirkungsvollste Methode des Krankheitsmanagements. Pacing bringt keine Heilung,
aber es verhindert eine Verschlechterung des Zustands mit dem Grundsatz, die
körperlichen und geistigen Aktivitäten jeweils vor dem Punkt abzubrechen,
dessen Überschreitung erfahrungsgemäß das charakteristische Merkmal des ME/CFS
nach sich zieht: die Zustandsverschlechterung nach (zu viel) Belastung. Wird
diese Methode über einen sehr langen Zeitraum hinweg konsequent angewendet,
kommt es bei vielen Patienten schließlich zu einer Ausweitung der engen Grenzen
ihrer Belastbarkeit.
Selbstverständlich kann es über diese Art des
Krankheitsmanagements keine randomisierte Doppelblindstudie geben - sie wäre
abgesehen von der Unmöglichkeit einer Doppelblindung auch ethisch nicht
vertretbar, denn sie würde bei der Kontrollgruppe, die stets über die
Belastungsgrenze hinausgeht, eine massive Verschlechterung des Zustands und der
Prognose bewirken.
Es ist merkwürdig, dass Henningsen diese erfolgreiche Form
des Krankheitsmanagements als „fortgesetztes
Schonverhalten“ bezeichnet und damit impliziert, dies würde die Krankheit
chronifizieren - im Gegensatz zu dem von ihm empfohlenen ansteigenden
körperlichen Training.
Eine kürzlich erschienene Studie von
Leonard Jason belegt, dass Pacing in der Regel eine Besserung oder zumindest
Stabilisierung bewirkt, während Graded Exercise zu einer
Zustandsverschlechterung führt.
Soviel zum Thema Pacing. Nun zum Thema der Gefährlichkeit
der „Aktivisten“:
Indem Henningsen sich in diesem Abschnitt auf den
Artikel von Hawkes (Hawkes N.
Dangers of research into
chronic fatigue syndrome. BMJ, 2011; 342: d3780 doi:10.1136/bmj.d3780)
bezieht, stellt er
Patientenvertreter als gefährliche Aktivisten dar, die Forscher wie
den Psychiater Simon Wessely und seine Anhänger bedrohen und ihnen gar nach dem
Leben trachteten. Dieser Artikel von Hawkes beginnt mit folgenden Sätzen:
„Nigel Hawkes berichtet, wie Drohungen gegenüber Forschern von Aktivisten in der
CFS/ME-Gemeinde die Erforschung der Krankheit ersticken.
Es gibt Jobs, mit denen ein Risiko verbunden ist, wenn man sich beispielsweise
auf einem Jahrmarkt zur menschlichen Kanonenkugel machen lässt. Es gibt Jobs,
bei denen man Schimpf und Schande auf sich zieht, beispielsweise, wenn man
Immobilienmakler ist, einen weißen Van fährt oder am Telefon Doppelverglasungen
verkauft. Und dann gibt es da den Job, zu versuchen, Forschung zum Chronic
Fatigue Syndrom/Myalgischer Enzephalomyelitis (CFS/ME) durchzuführen.“
Es gibt jedoch nicht einen einzigen Beweis für Bedrohungen
dieser Art. Wessely und ihm nahestehende Forscher behaupten immer wieder, sie
würden mit Todesdrohungen und Schikanen überzogen. Es liegen der Polizei jedoch keinerlei Anzeigen der angeblich Bedrohten
vor, so dass hier der Verdacht naheliegt, dass Patienten und ihre Vertreter
lediglich verunglimpft werden sollen.
Es erscheint wie eine Verdrehung der Tatsachen: Nicht die
ME/CFS-Patienten werden so in Verruf gebracht, sondern
sie bringen demnach gute Forschung in Verruf - Nigel Hawkes schreibt weiter: „dass die Menge an kritischen Briefen,
die die Zeitschrift zu den PACE-Trials bekommen hat, nach einer aktiven Kampagne
roch, um die Forschung in Verruf zu bringen.“
Damit wird unterstellt, es wären die Patienten, die mit
Drohungen und Hetzkampagnen eine ordentliche Forschung auf dem Gebiet des ME/CFS
verhindern würden. Tatsächlich fordern diese seit Jahrzehnten vergeblich, dass
der britische Staat Gelder für die Erforschung der biomedizinischen Ursachen des
ME/CFS zur Verfügung stellt. Es ist die mangelnde Forschungsfinanzierung und
häufig auch die Bekämpfung von Forschern, die biomedizinische Studien
durchführen wollen, die eine ordentliche, sachgerechte Forschung verhindern.
Die einzige Studie, die jemals über
Steuergelder finanziert wurde, ist die sogenannte PACE-Trial. Die begründete Kritik an
dieser PACE-Studie können Sie u.a. hier nachlesen. Diese
fundierte und ausführlich dargelegte Kritik wird von Hawkes und
anderen jedoch als wütende Kampagne verunglimpft, um die dort als wirksam
befundenen Therapien, kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches
Training, in Misskredit zu bringen.
Henningsen impliziert nicht nur mit dem Zitieren dieser
Artikelserie im British
Medical Journal, dass sie aus unlauteren und unsachlichen Gründen um die
Anerkennung einer „organische(n), also legitime(n)
Ätiologie“ und entsprechende „organisch ansetzende
Therapien“ kämpfen würden.
Wie aber kann es gelingen, mit Patienten eine „tragfähige
Behandlungsbeziehung“ herzustellen, wenn man ihre Vertreter in dieser
Weise diffamiert? Wieso wird Patienten unterstellt, sie wollten sich selbst
schaden? Und ihren Vertretern, sie wollten verhindern, dass den Patienten
wirksame Therapien zukommen? Ihre Wahrnehmung sei
falsch, ihre Forderungen sachlich nicht angemessen? Und sie würden aufrechte
Forscher wie Wessely bedrohen?
Wie kann man eine „tragfähige
Behandlungsbeziehung“ auf der Basis einer äußerst einseitigen und
umstrittenen Darstellung des ME/CFS herstellen, die nahezu die gesamte
biomedizinische Forschung und Fachliteratur ignoriert?
8.
Einseitige Würdigung der Fachliteratur bei weitgehendem Ignorieren der medizinischen
ME/CFS-Forschung und entsprechenden Veröffentlichungen
Schaut man sich
die Literaturliste des Artikels an, so weist
sie ganz überwiegend psychiatrische Literatur von Anhängern der
biopsychosozialen Schule auf. Die beiden einzigen Studien, die
sich auf infektiöse Korrelate beziehen, sind die XMRV-Studie von 2009 sowie ein
Artikel, der sich mit der Nicht-Reproduzierbarkeit dieser Ergebnisse bzw. der
späteren Erkenntnis auseinandersetzt, dass XMRV eine im Labor entstandene
Chimäre, aber keine Humaninfektion ist.
Nicht erwähnt
wird das Ergebnis der sogenannten Lipkin-Studie (sowie zahlreicher anderer
Studien etwa zu anderen, symptomatisch ähnlichen Krankheitsbildern wie MS), dass man weiterhin retrovirale Spuren bei Menschen mit ME/CFS
findet, deren Bedeutung jetzt erforscht werden muss.
Man hat den Eindruck, dass
diese
2009-er Studie bzw. ihre
partielle Widerlegung nur erwähnt
wird, um zu belegen, dass
alle Spekulationen über eine immunologische, infektiöse oder andere organische
Ursache schon immer unsinnig gewesen wären und, wie sich wieder einmal zeigt, doch hinfällig
seien.
Dementsprechend werden auch die Studien zur
Behandlung mit Rituximab, die immerhin bei zwei
Dritteln der Behandelten zu erheblichen Besserungen führten, oder auch Studien
zur Behandlung mit Medikamenten gegen
Herpesviren oder
Enteroviren und viele andere Studien (z.B. diese,
diese,
diese, diese,
diese oder diese)
nicht erwähnt.
Ein Artikel, der für sich den Anspruch erhebt, eine
Übersicht über ein Krankheitsbild zu geben, sich dabei aber zentral auf eine
wahrscheinlich manipulierte Studie (die PACE-Studie) und ein Konzept von 1869 (der Beard'schen
Neurasthenie) stützt und der gleichzeitig die etwa 5000
medizinischen Fachartikel aus den vergangenen 20 Jahren ignoriert, in denen seine charakteristischen Anomalien
beschrieben und nachgewiesen werden, ist zumindest einmal unvollständig und
extrem einseitig.
Lesen Sie hierzu auch:
Schlussbemerkung und Kommentar:
Noch ein Wort zum Schluss: Es geht bei dieser kritischen
Würdigung des
Artikels von Henningsen nicht darum, Psychotherapie generell zu
verdammen oder zu behaupten, es gäbe soetwas wie psychosomatische Beschwerden
nicht, also den körperlichen Ausdruck unbewusster seelischer Konflikte oder
unausweichlicher sozialer oder beruflicher Zwangslagen. Im Gegenteil.
Selbstverständlich gibt es soetwas, und
für Störungen dieser Art sind
gute Psychotherapie auf der Basis eines somato-psychischen Verständnisses und
eine gute soziale,
psychologische und medizinische Unterstützung wichtig.
ME/CFS ist jedoch eine somatische, eine
neuro-immunologische Erkrankung, bei der es, wie bei allen schweren Krankheiten, natürlich auch zu einer Überlagerung
durch psychologische Faktoren kommen kann.
Ob diese primär sind und/oder
sekundär im Sinne etwa einer reaktiven Depression infolge der verheerenden
Auswirkungen der Erkrankung oder ob psychische Symptome die direkte Folge
biologischer Anomalien sind (etwa der charakteristische „Brainfog“, Licht- und
Lärmempfindlichkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen), sei dahingestellt und muss im Einzelfall betrachtet
und dementsprechend behandelt werden. Selbstverständlich auch mit
Psychotherapie, aber mit einer Psychotherapie, die auf einem sachgerechten
Verständnis des ME/CFS beruht, wie sie etwa
Eleanore Stein in ihrer Broschüre
beschreibt. Und auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die beste Psychotherapie
für Menschen mit ME/CFS immer noch die ist, ihren Gesundheitszustand zu verbessern.
Dann werden sie ganz von alleine aktiver - aktiver, als sie
es ohnehin schon sind: Die Psychologin Gabriele Knauf, die zusammen mit ihrem
Mann Werner Knauf einen Film über
ME/CFS produziert hat, betonte, man müsse diese Patienten nicht aktivieren,
sie aktivierten sich selbst - etwas, das auch anhand der in ihrem Film
portraitierten Patienten deutlich wird.
Notwendig wäre bei ME/CFS - wie bei fast allen anderen
organischen Erkrankungen auch - eine kombinierte Behandlung, die
den Patienten zunächst einmal ohne vorgefasste Konzepte wahrnimmt, die seine organische Krankheit angeht und die
psychischen Auswirkungen oder auch psychische „Verstärker“ derselben im Blick hat, die eventuelle psychische
Überlagerungen unterscheiden kann von der organischen Krankheit und nicht im
Sinne von pseudologischen Zirkelschlüssen, unbewiesenen Spekulationen und
impliziten Schuldzuschreibungen den Patienten zum Angeklagten macht und ihn
letztlich alleine lässt.
Aber genau das, eine solch hilfreiche, wahrnehmende
Psycho-Somatik wird durch Krankheitsmodelle wie das biopsychosoziale Modell verhindert,
ob es sich um tatsächliche psychosomatische Beschwerden handelt oder um
organische Krankheiten wie ME/CFS.
Niemand, und zuallerletzt schwerkranke ME/CFS-Patienten,
hätte etwas dagegen, wenn alle Aspekte ihrer Krankheit berücksichtigt und
angegangen würden, die biologischen, die psychologischen und die sozialen. Im
Gegenteil, das ist das, was sie und ihre Patientenvertreter, Selbsthilfegruppen
sowie engagierte Ärzte und Forscher auf diesem Gebiet seit Jahrzehnten
vergeblich fordern.
Leider hat jedoch noch keine dem biopsychosozialen Modell
entsprechende Psychotherapie auch nur einen einzigen Menschen mit klassischem
ME/CFS (nicht Chronischer Erschöpfung) wieder gesund gemacht. Das beklagen
Henningsen und andere selbst:
„Angesichts dessen, dass kognitive
Verhaltenstherapie eine abgestufte Rückkehr zur Aktivität beinhaltet, ist es
verblüffend, dass gesteigerte Aktivität keine Besserung zustande zu bringen
scheint. Genauso haben zwei Studien ergeben, dass gesteigerte Fitness keine
Besserung aufgrund von Graded Exercise zustandebrachte. Das ist besonders
überraschend, da Graded Exercise Therapie auf einem Modell der Dekonditionierung
und Aktivitätsvermeidung beruht.“
„Considering that CBT
involves a graded return to activity, it is intriguing that increased activity
does not seem to mediate improvement. Similarly two studies have found that
increased fitness did not mediate improvement with GET. This is especially
surprising as GET is based on a model of deconditioning and avoidance of
activity.“
(Aus:
Medically Unexplained Symptoms, Somatisation and Bodily Distress, Francis
Creed, Peter Henningsen, Per Fink,, Cambridge 2011, S. 81)
Die obige Analyse zeigt - und insofern ist das selbst
berichtete Versagen der empfohlenen Therapieformen durchaus keine Überraschung -
, dass die biologischen
Aspekte der Erkrankung im biopsychosozialen Modell und in der
Praxis seiner Vertreter nicht berücksichtigt und die psychologischen und
sozialen Aspekte überbetont werden. Statt eine Besserung der Erkrankten zu
bewirken, mündet das Krankheitsmodell in paradoxe
Kommunikationsmuster, die alle Beteiligten lähmt. Durch sie werden letztlich nicht nur die Patienten,
sondern auch die sie behandelnden Ärzte in eine Lose-Lose-Situation gebracht.
Wie das obige Zitat zeigt, bringen sich die Vertreter des biopsychosozialen
Modells letztlich selbst um einen Erfolg und landen in einer Sackgasse.
Statt das zu sein, was diese biopsychosoziale Modell
vorgibt, nämlich eine Hilfe für den Patienten zu sein, zeigt die leidvolle
Erfahrung nahezu aller ME/CFS-Patienten, dass es in der Realität - ob gewollt
oder ungewollt - häufig im Sinne von Einsparmaßnahmen im Sozial- und
Gesundheitswesen benutzt wird. Patienten und „Aktivisten“ kämpfen
nicht gegen hilfreiche Therapieansätze, so wie es z.B. im Henningsen'schen
Artikel dargestellt wird, sondern sie kämpfen dagegen, dass man sie ihnen
verweigert - und zwar auf der Basis des inhaltlich nicht begründeten Krankheitsmodells der biopsychosozialen
Schule.
Lesen Sie dazu im Folgenden einen
exemplarischen Patientenbericht und die
folgenden
Aussagen der ME/CFS-Experten Malcom Hooper, Leonard Jason und Nigel Speight:
Nachtrag:
Am 14. Januar 2013 erschien ein
17-seitiger, umfassender Übersichtsartikel von Leonard Jason et al. mit dem
Titel:
Energy conservation/envelope theory interventions, in dem er beschreibt,
dass der Energy Envelope Ansatz, der dem Pacing entspricht, die Lebensqualität
der Patienten beträchtlich erhöhen kann, auch wenn dieses Krankheitsmanagement
nicht zu einer Heilung führt, während
"Patient reactions to CBT and graded exercise have been mixed at best".
Die 3-seitige Literaturliste umfasst alle relevanten Veröffentlichungen zur
Frage CBT/GET und Pacing.
In der abschließenden Zusammenfassung schreibt er:
"Conclusion
The series of studies summarized in this article
provide support for the Energy Envelope Theory as an approach to the
rehabilitation management of CFS. This theory would recommend that health care
professionals who treat patients with CFS incorporate strategies that help
patients self-monitor and self-regulate energy expenditures. Learning to pace
activities and stay within the energy envelope appears to have favorable
outcomes for patients with CFS. Non-pharmacologic rehabilitative interventions
are used for people with cancer and heart disease, but they are only one part of
the treatment plan, and, when used by themselves, they are not curative.
Similarly, helping patients with CFS remain within their energy envelopes is
only one part of a rehabilitation plan.
(...)
The Energy Envelope approach to CFS symptom
management and rehabilitation has important implications for health care
practitioners who see individuals with CFS. Although this approach is not
curative, it may provide this patient population with strategies to aid in
symptom management, which can significantly improve the quality of life for
these individuals." |