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    Artikel des Monats Januar 2013 Teil 2

    Die Sichtweise der biopsychosozialen Schule am Beispiel Peter Henningsen im Vergleich Sichtweise von ME/CFS-Spezialisten

    Artikel hier als pdf-Datei zum Ausdrucken

    Zum Jahresbeginn 2013 hat Prof. Peter Henningsen, Neurologe und Inhaber eines Lehrstuhls für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der TU München, einen Übersichtsartikel zum “Chronischen Erschöpfungssyndrom“ veröffentlicht. Im Folgenden finden Sie eine kritische Würdigung des Henningsen-Artikels (Abschnitt A).

     Demgegenübergestellt finden Sie in Abschnitt B Aussagen der ME/CFS-Spezialisten Prof. Malcom Hooper, emeritierter Medizinprofessor, Dr. Nigel Speight, Kinderarzt und Psychologieprofessor Leonard Jason aus dem in Kürze mit deutschen Untertiteln erscheinenden Film Voices from the Shadows.

    ME/CFS ist eine Krankheit, über die Anthony Komaroff, Medizinprofessor an der Harvard-Universität, bereits im Jahr 2000 sagte:

    „Es gibt jetzt umfangreiche Beweise für einen zugrundeliegenden biologischen Prozess, der nicht mit der Hypothese vereinbar ist, dass (ME/CFS) Symptome umfasse, die aufgrund eines darunterliegenden psychiatrischen Leidens lediglich eingebildet oder verstärkt werden. Es ist an der Zeit, diese Hypothese zu begraben.“ (The Biology of the Chronic Fatigue Syndrome. Anthony Komaroff. Am J Med 2000:108:99-105)

    Im Jahr 2012 sagten die Onkologen Olaf Mella und Oystein Fluge, die Studien zur Behandlung von ME/CFS-Patienten mit dem Krebsmedikament Rituximab durchführen:

    „Wenn wir Krebspatienten haben, die so krank sind wie viele dieser Patienten sind, dann haben sie nur noch eine sehr kurze Lebenserwartung. Das sagt eine Menge aus über die Lebensqualität vieler der [ME/CFS-]Patienten.“

    (“When we have cancer patients that are as sick as many of these patients are, they have a very short life expectancy. That says a lot about the quality of life for many of them.”) Quelle hier.

     

    Abschnitt A:

    Kritische Würdigung des Übersichtsartikels von Peter Henningsen „Das chronische Erschöpfungssyndrom

    Analyse und Kommentar von Regina Clos

    Das chronische Erschöpfungssyndrom

    P. Henningsen, A. Martin

    Dtsch med Wochenschr 2013; 138(01/02): 33-38
    DOI: 10.1055/s-

    https://www.thieme-connect.de/ejournals/abstract/10.1055/s-0032-1327358

     

    Dieser Artikel von Henningsen/Martin beruht auf:

    1. dem Krankheitsmodell der biopsychosozialen Schule, bei dem verschiedene Störungsbilder entdifferenziert und vermengt werden - (mehr dazu hier)

    2. einem Verstoß gegen die Bestimmungen der WHO (Klassifikation ein und derselben Erkrankung unter verschiedene Diagnoseschlüssel der ICD-10) - (mehr dazu hier)

    3. Therapieempfehlungen auf der Basis einer unter Manipulationsverdacht stehenden Studie (der PACE-Trial) - (mehr dazu hier)

    4. einer Art Anleitung zur „iatrogenen Chronifizierung“ des ME/CFS (mehr dazu hier)

    5. der Beschuldigung von ME/CFS-Spezialisten in Klinik und Forschung, die richtigen Therapieansätze zu verhindern - (mehr dazu hier)

    6. einer Art Anleitung zur Herstellung einer paradoxen Kommunikationsstruktur mit dem Patienten - (mehr dazu hier)

    7. der Beschuldigung von Selbsthilfegruppen und Patientenbewegung, eine wirksame Behandlung der Betroffenen zu verhindern: - (mehr dazu hier)

    8. einer einseitigen Würdigung der vorhandenen Literatur bei weitgehendem Ignorieren der medizinischen Forschung und entsprechenden Veröffentlichungen (mehr dazu hier.)

    Schlussbemerkung und Kommentar

    Patientenbericht über eine Begutachtung im Hause Henningsen

    Zu 1. Das Krankheitsmodell der biopsychosozialen Schule -  Entdifferenzierung und Vermengung verschiedener Störungsbilder

    Das Abstract von Henningsens Artikel beginnt mit einer Art Leitsatz, der die Grundlage des Krankheitsmodells der biopsychosozialen Sichtweise zu „CFS“ verdeutlicht:

    „Andauernde und beeinträchtigende Erschöpfung, die durch eine bekannte medizinische Erkrankung nicht erklärt werden kann, stellt das Kernmerkmal des chronischen Erschöpfungssyndroms dar.“

    Das „Kernmerkmal“ des „Chronischen Erschöpfungssyndroms“ ist demnach ein Merkmal des Medizinsystems bzw. des Ergebnisses ärztlicher Untersuchungen, aber nicht der Krankheit: Es kann „durch eine bekannte medizinische Erkrankung nicht erklärt werden.

    Der Kern dieser Aussage ist: Wir wissen es nicht, was mit diesen Patienten los ist. Diese eigentliche Bedeutung, die des Nichtwissens, versteckt sich hinter der Zuordnung des „CFS“ zu einer größeren „diagnostischen“ Kategorie, die auf dem gleichen Denkansatz beruht, den „anderen funktionellen somatischen Syndromen“:

    Für die Nähe zu anderen funktionellen somatischen Syndromen spricht die hohe Komorbidität mit anderen, organisch nicht hinreichend erklärten Körperbeschwerden.

    Diese Tautologie verdeckt ein Vorgehen, das man in etwa so formulieren könnte: Wenn wir Symptome nicht erklären können, wenn wir nicht wissen, warum ein Patient so massive Symptome hat, die ihn bis zu völliger Bettlägerigkeit lähmen, wenn wir also eigentlich gar keine Diagnose haben, dann denken wir uns eine Diagnose aus, deren Kernmerkmal unser Unwissen ist und tun so, als ob das etwas über die Krankheit aussagen würde.

    Diese Nomenklatur für das ärztliche (Noch-)Nichtwissen durchzieht den gesamten Artikel und spiegelt sich z.B. in Sätzen wie diesem wider:

    „Ein „chronisches Erschöpfungssyndrom“, englisch „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS), ist ein Beschwerdebild mit anhaltender Erschöpfung, die nicht durch eine klar definierte organische oder psychische Erkrankung erklärt werden kann und die die Alltagsfunktionen stark beeinträchtigt. Die Erschöpfung äußert sich in schneller Erschöpfbarkeit bei geringer körperlicher Anstrengung und/oder bei konzentrierter geistiger Tätigkeit.“

    Was aber rechtfertigt es, Krankheitsbilder, deren Ätiologie man noch nicht vollständig verstanden hat, zugleich als psychische Erkrankung zu klassifizieren? Auch wenn Henningsen später im Artikel sagt, „CFS“ sei keine psychische Erkrankung, ordnet er „CFS“ im Diagnoseschlüssel der WHO, den ICD-10, unter „Kapitel V, Psychische und Verhaltensstörungen“ ein. Eine solche klare Zuordnung würde aber implizieren, dass man die Ätiologie verstanden und nachgewiesen hat, aber das hat Henningsen gerade ausgeschlossen: CFS sei ein „Beschwerdebild“ (er spricht nicht von einer Krankheit oder Störung), das „nicht durch eine klar definierte organische oder psychische Erkrankung erklärt werden kann“. Das erscheint als in sich widersprüchlich.

    Schon hier wird ein grundlegendes Problem des Krankheitsmodells der biopsychosozialen Schule deutlich: Alle Störungen, die durch eine bekannte medizinische Erkrankung nicht erklärt werden können“, bezeichnen sie mit Begriffen somatoforme Störung (F45.-), Somatisierungsstörung (F45.0), multiple psychosomatische Störung (F45.0), undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1), Hypochondrische Störung (F45.2), Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3), Neurasthenie (F48.0).

    Alle diese Diagnosen beruhen auf subjektiven Beurteilungen dessen, der sie einem Patienten zuordnet, nicht aber auf evidenzbasierten Studien oder diagnostischen Verfahren, die, wenn es um organische Korrelate von Symptomen oder Ursachen einer Krankheit wie ME/CFS geht, vom Autor unabdingbar eingefordert werden.

    Mit einer solchen Argumentation suggeriert Henningsen eine diagnostische Sicherheit, die angezweifelt werden kann. Die Kategorie der „somatoformen Störungen“, in die er das „CFS“ einordnet, könnte man auch bezeichnen als eine Art „Abfallkategorie“, die sich nicht - wie bei allen anderen Erkrankungen und den entsprechenden diagnostischen Kategorien - aus den Merkmalen der unterschiedlichen Krankheiten selbst speist, sondern schlicht aus der Tatsache, dass sie mit „organisch nicht hinreichend erklärten Körperbeschwerden“ verbunden sind.

    Bei welcher Krankheit aber sind die Körperbeschwerden „organisch hinreichend geklärt“? Rechtfertigt diese Ungeklärtheit, die auch bei zahlreichen, wenn nicht der Mehrheit der anderen Krankheiten vorliegt, diese automatisch den „Psychische(n) und Verhaltensstörungen“ zuzuordnen? Und was heißt „hinreichend“? Hinreichend wofür? Ist die Medizin nicht ein ständig fortschreitendes Gebiet der Erkenntnis, auf dem das, was heute gilt, morgen schon Makulatur sein kann?

    Auf der Basis einer solchen Argumentation hätte man in früheren Zeiten, als man tatsächlich noch nicht viel über die Ursachen von Krankheiten wusste, alle Krankheiten als psychische oder Verhaltensstörung betrachten müssen. Wäre man dann den Empfehlungen der biopsychosozialen Schule gefolgt, hätte man auch niemals eine medizinische Erforschung derselben verfolgt, ja verfolgen dürfen. Mit dieser Logik werden medizinische Forschung und Behandlung tendenziell überflüssig - und vielleicht ist das auch die Logik hinter dieser Unlogik: wo immer wir im heutigen Medizinsystem nicht weiterwissen, wo wir nichts diagnostizieren und behandeln können, wo immer wir nicht forschen können oder wollen - aus welchen Gründen auch immer -, soll die „Psychosomatik“ herhalten. Nicht das Medizinsystem, die Erforschung, die Diagnose des vorliegenden Krankheitsbildes sind unzureichend, sondern der Patient hat „Psychische und Verhaltensstörungen“.

    Es ist merkwürdig, dass Henningsen die umfangreiche biomedizinische Forschung und Literatur in seinem Artikel nicht verarbeitet hat, denn diese enthält zahlreiche und zunehmend konsistente Hinweise auf die Ätiopathologie des ME/CFS (nicht Chronischer Erschöpfung). Auch wenn sich aus der bisherigen Forschung noch keine Ursachenklärung und keine Behandlung im Sinne einer Heilung ergibt, haben die erkrankten Menschen doch Anspruch auf eine Behandlung und die Gewährung der gesellschaftlichen Unterstützung, die bei zahlreichen anderen, ebenfalls ursächlich ungeklärten und nicht heilbaren Krankheiten gewährt wird.

    Dass Henningsens Darstellung des CFS“ sehr reduziert und einseitig sein muss, folgt bereits aus der Länge seines Übersichtsartikels: er erhebt den Anspruch, auf 6 Seiten - inklusive Literaturangaben - eine Übersicht über ein so komplexes Krankheitsbild wie ME/CFS oder auch „CFS“ geben zu können.

    Dokumente wie die Broschüre von Anthony Komaroff oder der kürzlich erschienene 42-seitige Bericht der US-amerikanischen National Institutes of Health über die Tagung zum Stand der Wissenschaft und Forschung zu ME/CFS und viele andere  ausführliche Schriften (z.B. Byron Hyde) können den Anspruch erheben, eine Übersicht zu geben, nicht aber ein auf eine Sichtweise reduziertes, die biomedizinische Literatur weitgehend außer Acht lassendes Papier. Es gibt in keiner Weise den Stand der Wissenschaft zu ME/CFS wieder.

    Dokumente wie die beiden genannten von Komaroff und den NIH (und es gibt derer viele mehr) werden der Erkrankung und dem Stand der Wissenschaft viel eher gerecht. Sie beruhen auf dem Wissen, dass es sich um eine Multisystemerkrankung handelt und geben dementsprechend die verschiedenen Forschungsrichtungen wieder, die weiterverfolgt werden müssen, um die notwendigen Differenzierungen und Untergruppenbildungen des ME/CFS vorzunehmen und daraus differenzierte und wirksame Behandlungsansätze zu entwickeln.

    Eine Entdifferenzierung, wie sie von Henningsen und anderen Anhängern der biopsychosozialen Schule vorgenommen und in diagnostische Kategorien gepresst wird, kann weder in der Erforschung der Ätiologie und der Krankheitsmechanismen des ME/CFS noch hinsichtlich seiner Behandlung weiterhelfen.

    Beispielhaft für die Bemühung, bei ME/CFS Untergruppen nach Symptomatik und Anomalien zu bilden, das vorhandene Wissen der internationalen Forschergemeinde zu bündeln und zu koordinieren ist das Open Medicine Institute mit seiner MERIT-Initiative. Hier findet eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Differenzierung und systematische zukunftsorientierte Forschung  statt. 

    Die  Entdifferenzierungstendenz des Henningsen'schen Artikels hingegen kann bei einer Multisystemerkrankung Forscher, Kliniker und Patienten gleichermaßen nur in eine Sackgasse führen. Sie kommt auch in der Vermengung der verschiedenen Krankheitsdefinitionen - der Fukuda-Definition und der Oxford-Definition zum Ausdruck:

    „Häufige Anwendung finden auch die ätiologisch neutraleren Oxford-Kriterien, welche sowohl mentale als auch physische Fatigue, nicht jedoch weitere körperliche Symptome, erfordern.“

    Die Kanadische Konsensdefinition und die Internationale Konsensdefinition werden in dem Artikel überhaupt nicht erwähnt, dabei ist die Kanadische Konsensdefinition mittlerweile - in Kombination mit der Fukuda-Definition - der Standard der ME/CFS-Forschung sowie des diagnostischen Vorgehens in der ärztlichen Praxis.

    Dass mit der Fukuda- und der Oxford-Definition ganz unterschiedliche Patientengruppen erfasst werden, bei denen die Ätiologie und die Krankheitsprozesse in der Tat völlig unterschiedlich sein können, wird nicht problematisiert, sondern als Vorteil dargestellt - sie sind „neutraler“. D.h. nach Henningsens Argumentationslinie könnte man ohne die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung alle „Chronisch Erschöpften“ unter diese Kategorie subsumieren, angefangen von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen „chronisch müde“ sind, bis hin zu schwersterkrankten, bettlägerigen ME/CFS-Patienten - und sie passen allesamt in die Grobkategorie der Psychische(n) und Verhaltensstörungen.

    Aus der Anwendung der Fukudakriterien bzw. der Oxfordkriterien in epidemiologischen Studien ergeben sich vollkommen andere Prävalenzzahlen, und zwar um den Faktor 10 höhere bei Anwendung der Oxfordkriterien. Henningsen schreibt dies selbst:

    „Das CFS im engeren Sinne ist relativ selten (max. 0,5 % in der Bevölkerung), chronische Erschöpfung insgesamt ist ca. 10mal häufiger.“

    Liegt da nicht der Schluss nahe, dass es sich um ganz unterschiedliche Gruppen von Krankheiten bzw. Patienten handeln muss? Und dass man sie folglich auch nicht mit den gleichen von Henningsen empfohlenen Therapieansätzen - kognitiver Verhaltenstherapie verbunden mit ansteigendem körperlichen Training - „behandeln“ kann?

    Diese mangelnde Problematisierung und Entdifferenzierung entspräche in etwa einem Vorgehen, bei dem man alle Krankheiten, die mit dem Symptom Husten verbunden sind, als „chronisches Hustensyndrom“ bezeichnen würde, und bei dem man dann die vorhandenen Möglichkeiten der Differenzialdiagnostik in z.B. Lungenephysem, Lungenkrebs, Lungenentzündung, Bronchitis, grippaler Infekt, Tuberkulose, Rauchvergiftung etc. unter den Tisch fallen lassen und allen Patienten statt der entsprechenden medikamentösen und/oder chirurgischen Behandlung ein wenig Entspannungs- und Atemtherapie und einen ordentlichen Spaziergang an der frischen Luft verordnen würde.

    „Chronische Müdigkeit“ ist ein Symptom, das bei unzähligen, ätiologisch vollkommen unterschiedlichen Krankheiten vorkommt, und es ist, obwohl der irreführende Name „Chronic Fatigue Syndrome“ dies nahelegt, auch nicht das Hauptcharakteristikum des ME/CFS. Das Leitsymptom des ME/CFS ist, neben einer Reihe neurologischer und immunologischer Symptome, die Zustandsverschlechterung nach Belastung. D.h. alle Symptome der Patienten werden durch körperliche und/oder geistige Belastung verstärkt. Diese Verstärkung tritt sowohl unmittelbar als auch mit zeitlicher, 24-48-stündiger Verzögerung auf und kann zu schweren Rückfällen führen. Für schwer Erkrankte kann es bereits zu massiven Rückfällen kommen, wenn sie 10 Minuten im Bett aufsitzen, für leichter Erkrankte ist die Belastungsgrenze entsprechend höher.

    Die Psychiaterin Eleanor Stein hat kürzlich in einem Artikel geschrieben: 

    "Die Zustandsverschlechterung nach Belastung (unmittelbar danach oder verzögert), das pathognomonische Symptom der ME, gibt es gewöhnlich bei keiner psychiatrischen Störung: die meisten psychiatrischen Patienten fühlen sich nach geistiger oder körperlicher Belastung besser statt schlechter." ("Postexertional malaise (immediate or delayed), the pathognomonic symptom of ME, is unusual in any psychiatric condition: most psychiatric patients feel better rather than worse after mental or physical exertion.")

    Diese Belastungsgrenze lässt sich nach aller Erfahrung auch nicht durch die von Henningsen und Anhängern der biopsychosozialen Schule empfohlene ansteigende körperliche Belastung erhöhen. Das haben sogar Studien von Anhängern des biopsychosozialen Modells ergeben (s.u.). Alle Erfahrung zeigt, dass ansteigende körperliche Belastung die - in der Tat noch nicht hinreichend geklärten - Krankheitsmechanismen anheizt und dass das Modell der Dekonditionierung, hervorgerufen durch eine angeblich übermäßige Schonhaltung der Patienten auf der Grundlage ihrer "falschen Krankheitsüberzeugungen" nicht greift.

    Zu 2: Verstoß gegen die Bestimmungen der WHO

    Henningsens folgende Behauptung widerspricht expliziten Vorgaben hochrangiger Mitarbeiter der WHO sowie den Feststellungen des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information.

    „In den offiziellen diagnostischen Manualen ICD-10 und DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual, American Psychiatric Association) werden chronische Erschöpfungssyndrome unterschiedlich behandelt. Die ICD-10 bietet verschiedene Klassifikationsmöglichkeiten im Kapitel der psychischen Störungen (F48.0 „Neurasthenie“, s. u.) sowie im Kapitel der neurologischen Störungen (ICD-10, G93.3, postvirales Ermüdungssyndrom/benigne myalgische Enzephalomyelitis bzw. in der deutschen Version ICD-10-GM explizit als G93 Chronisches Müdigkeitssyndrom).“

    Im Henningsen'schen Aufsatz findet sich gleich zu Beginn eine Formulierung, die suggeriert, ME/CFS (einschließlich anderer Namen, die man dem gleichen Krankheitsbild gegeben hat) sei identisch mit Neurasthenie: 

    „Zu den Begriffen, mit denen ein Beschwerdebild mit Leitsymptom Erschöpfung erfasst wird, gehört neben dem CFS die Neurasthenie, die myalgische Enzephalomyelitis (ME), das postvirale Fatigue-Syndrom, das chronische Erschöpfungsssyndrom bei Immundysfunktion, die „Royal Free disease“, die „Iceland disease“ u. a. m.“

    Der Begriff der Neurasthenie wurde 1869 von einem George Miller Beard in dem Buch „American Nervousness“ geprägt. In diesem Buch lesen wir weitere bahnbrechende Erkenntnisse wie etwa, die amerikanische Rasse sei in Gefahr, wenn man jungen Mädchen eine naturwissenschaftliche Bildung zukommen ließe, denn dann würde ihr Uterus schrumpfen und ihre Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigt. (Lesen Sie hierzu Mary Schweitzers Ausführungen)

    Die Vorgaben der WHO verbieten es, ein und dasselbe Krankheitsbild unter mehrere Diagnoseschlüssel zu fassen. Dr. B. Saraceno von der WHO hat die Klassifikation der WHO in einem Schreiben vom 16. Oktober 2001 klargestellt:

    „Ich möchte die Situation bezüglich der Klassifikation von Neurasthenie, Fatigue Syndrome, Postviralem Fatigue Syndrom und Benigner Myalgischer Enzephalomyelitis klarstellen. Lassen Sie mich klar und deutlich feststellen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Position in Bezug auf diese Krankheiten seit der Veröffentlichung der 10. Ausgabe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Jahr 1992 und in der Version in den Folgejahren nicht geändert hat.“

    Das Postvirale Fatigue Syndrom bleibt in der Kategorie der Krankheiten des Nervensystems als G93.3. Die Benigne Myalgische Enzephalomyelitis ist in dieser Kategorie miteingeschlossen.

    „Die Neurasthenie bleibt unter den Kategorien der psychischen und Verhaltensstörungen als F48.0 und das Fatigue Syndrom (man beachte: NICHT DAS CHRONIC FATIGUE SYNDROM) gehört zu dieser Kategorie. Jedoch ist das Postvirale Fatigue Syndrom aus F48.0 explizit ausgeschlossen.“

    André l’Hours vom Hauptsitz der WHO lieferte am 23. Januar 2004 eine weitere schriftliche Klarstellung:

    „Hiermit wird bestätigt, dass nach den taxonomischen Prinzipien (den Klassifikationsschemata, d.Ü.), die für die Zehnte Revision der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und darauf bezogener Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation maßgeblich sind, es nicht gestattet ist, ein und dieselbe Krankheit unter mehr als einer Rubrik einzuordnen, da dies bedeuten würde, dass die einzelnen Kategorien und Unterkategorien sich nicht mehr gegenseitig ausschließen.“

    André L’Hours wies darauf hin, dass jedes Land, das die WHO-Bestimmungen für die Bezeichnungen der Krankheiten akzeptiert, auch verpflichtet ist, die Klassifikation der ICD zu akzeptieren.

    Die Originale dieser Texte finden Sie z.B. hier oder hier.

    Henningsen müssten diese Vorgaben der WHO bekannt sein, ebenso wie die Tatsache, dass Deutschland sich verpflichtet hat, sich an die Vorgaben der WHO und die ICD-10 zu halten. Ungeachtet dessen lesen wir in seinem Artikel:

    „Das chronische Erschöpfungssyndrom wird auch zu den funktionellen somatischen Syndromen gezählt, die generell charakterisiert sind durch bestimmte, durch Organpathologie nicht ausreichend erklärbare Körperbeschwerden,...“

    „Wenn eine Vielzahl von organisch unerklärten Körperbeschwerden neben der chronischen Erschöpfung vorliegt, kann auch die Diagnose einer Somatisierungsstörung (ICD 10 F45.0) vergeben werden.“

    Weiterhin wird ignoriert, dass in der o.g. Version der ICD-10 unter dem Punkt Neurasthenie (F48.0) explizit die Benigne myalgische Enzephalomyelitis [postvirales Müdigkeitssyndrom] (G93.3) ausgeschlossen wird.

    Ebenso werden Unwohlsein und Ermüdung (R53) explizit aus der Kategorie der somatoformen Störungen ausgeschlossen.

    Durch die oben geschilderte Vermengung verschiedener Krankheitsbilder und Störungen wie ME/CFS, Chronische Müdigkeit und chronische Erschöpfung infolge unterschiedlicher Störungen und/oder sozialer und/oder psychischer Vorbedingungen und den Versuch, sie allesamt in eine Kategorie zu pressen, können die Vorgaben der WHO nicht eingehalten werden. Zudem werden Vermengung und Entdifferenzierung den unterschiedlichen Krankheitsbildern, d.h. den davon betroffenen Menschen nicht gerecht und bieten damit auch keine geeignete Vorlage für jeweils angemessene Therapieansätze.

    Beachten Sie hierzu auch:

    Zu 3: Therapieempfehlungen auf der Basis einer unter Manipulationsverdacht stehenden Studie zur Therapie des ME/CFS (der PACE-Trial)

    Die Behandlungsempfehlungen des biopsychosoziale Modells nach Wessely finden wir auch bei Henningsen wieder:

    „Für die Therapie des CFS bestehen die besten Wirkungsbelege für Psychotherapie in Form kognitiver Verhaltenstherapie sowie für gestufte körperliche Aktivierung.“

    Sie entsprechen auch den „allgemeinen Handlungsempfehlungen“ der neuen AWMF-S3-Leitlinie „Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“, die unter Leitung von Henningsen als Leitlinienkoordinator revidiert und 2012 neu herausgegeben wurden.

    Begründet werden diese Empfehlungen wie folgt:

    „Die klarste Evidenz gibt es in Metaanalysen und zahlreichen Einzelstudien derzeit für die Wirksamkeit sowohl einer psychotherapeutischen Behandlung des CFS als auch einer gestuften körperlichen Aktivierung.“

    Sodann beruft er sich auf die PACE-Studie, die diese Evidenzbasierung ganz wesentlich begründen würde. Hier können Sie erfahren, wie in dieser Studie die Zahlen manipuliert und der nicht vorhandene Therapieerfolg von kognitiver Verhaltenstherapie und Graded Exercise Therapie als Erfolg dargestellt wurde.

    Wenn man sich das Zahlenwerk der PACE-Studie genauer ansieht, wird klar, dass die Patienten mit keiner der getesteten Therapieverfahren auch nur irgendeinen signifikanten Fortschritt erzielt haben. Nach einem Jahr Behandlung mit Graded Exercise konnte die so behandelte Gruppe im Vergleich zu anderweitig behandelten Gruppe in 6 Minuten gerade mal 20 Schritte mehr laufen, blieben jedoch auch mit dieser „Besserung“ weit hinter der Leistungsfähigkeit eines Gesunden zurück.

    Der angebliche Fortschritt beruht auf einem weiteren Zahlentrick - man hat im Verlauf der Studie die Zielmarke für einen Behandlungserfolg so herabgesetzt, dass sie unter der Marke lag, die die Zugangsvoraussetzung zur Teilnahme der Studie war. Somit bestand grundsätzlich die Möglichkeit, Patienten, denen es nach Abschluss der Studie schlechter ging, in die Kategorie „erfolgreiche Behandlung“ einzusortieren.

    Diese Zahlenspiele müssen Henningsen bei der Durchsicht der Studie entgangen sein, denn sonst wäre ihm klar, dass man daraus keine Therapieempfehlungen für kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training (Graded Exercise) ableiten und dies als die evidenzbasierte Behandlung anpreisen kann.

    Aus dem Versäumnis, die fehlende Evidenzbasis für kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und Graded Exercise (GET) zu erkennen, leitet sich dann auch folgende Aussage Henningsens ab:

    Für immunologische und infektiologische Therapieansätze fehlen eindeutige Wirksamkeitsnachweise.“

    Tatsächlich ist jedoch für die PACE-Studie keinerlei „wissenschaftliche Evidenz für entsprechende Wirksamkeit“ gegeben.

    Abgesehen von zahlreichen Studien mit vergleichbarem Ergebnis zeigen auch Umfragen unter fast 5000 Patienten über kognitive Verhaltenstherapie und Graded Exercise Therapie, dass beide Ansätze im besten Falle nichts nutzen, in vielen Fällen den Patienten sogar schaden, teilweise in erheblichem Ausmaß. Malcom Hooper schreibt in seinem Kommentar zur Verleihung des Maddox-Preises an Simon Wessely:

    „Es gibt reichliche Belege aus zahlreichen Umfragen von ME/CFS-Patientenorganisationen unter fast 5000 Patienten, aus denen hervorgeht, dass Simon Wesselys bevorzugte psychologische Interventionen der „kognitiven Restrukturierung“ (kognitive Verhaltenstherapie) wirkungslos und dass Graded Exercise Therapie nicht akzeptabel und manchmal absolut schädlich ist.“

    Eine Aufzählung der Umfragen finden Sie in deutscher Sprache hier.

    Eine Auflistung von Studien, die die Unwirksamkeit bzw. Schädlichkeit der empfohlenen Behandlungsansätze belegen, finden Sie z.B. hier.

    Warum, so fragt man sich, ignoriert Henningsen alle Belege für die mangelnde Verlässlichkeit und die gezielte Manipulation der PACE-Studie und die Beweise für die Unwirksamkeit und Schädlichkeit der von ihm empfohlenen Therapien? Warum werden in neu überarbeiteten Leitlinien Therapien empfohlen, die nach Aussagen so vieler Patienten und nach Erkenntnissen zahlreicher Studien über die schädlichen immunologischen und neurologischen Auswirkungen von Graded Exercise Therapie offensichtlich dem hippokratischen Eid zuwiderlaufen, nämlich primär dem Patienten nicht zu schaden?

    Eine mögliche Antwort darauf ergibt sich aus den Schilderungen vieler Patienten mit ME/CFS, die z.B. mit ihren privaten Kranken- und Berufsunfähigkeitsversicherungen - teils vor Gericht - um Krankengeld und Berufsunfähigkeitsrenten streiten: Sie verlieren ihre Prozesse regelmäßig mit dem Verweis auf die angebliche Harmlosigkeit ihrer Beschwerden und die angeblich wirksamen Therapieformen, wie sie von Experten wie Henningsen, Hausotter u.a. doch nachgewiesen sei.

    Regelmäßig werden sie zu Gutachtern geschickt, die von Haus aus Psychiater und Neurologen sind, die keine Kenntnisse über die biomedizinischen Anomalien des ME/CFS haben und die sich an Leitlinien, Lehrwerken und Fortbildungstexten der biopsychosozialen Schule orientieren. In der Regel werden aufgrund dessen die Ansprüche der kranken Menschen per Gutachten abgewiesen. Immer wieder schildern die Patienten, dass sie darüber hinaus in psychiatrische Behandlungen und in psychosomatische Kliniken gezwungen werden, in denen sie „aktiviert“ werden.

    Dass sie dafür körperlich viel zu schwach sind, bleibt unberücksichtigt und wird der angeblichen Dekonditionierung und den dysfunktionalen Krankheitsvorstellungen der Patienten zugeschrieben. Man zwingt sie, die für ME/CFS charakteristische Zustandsverschlechterung nach Belastung und teilweise eine erhebliche Verschlechterung ihrer langfristigen Prognose in Kauf zu nehmen, und zwar mit der Drohung, ihnen ab sofort den Lebensunterhalt, d.h. das Krankengeld zu entziehen. Eine beispielhafte Schilderung finden Sie unten.

    Entsprechende Schilderungen über Streitigkeiten mit der Deutschen Rentenversicherung und nicht privaten Krankenkassen gibt es in Patientenforen zu Hauf. Berater in Selbsthilfeorganisationen hören täglich vergleichbare Geschichten. Die Grausamkeiten, die Existenzängste, die aufgezwungenen Verschlechterungen des Gesundheitszustands der Patienten, die finanzielle Not von Menschen, die teilweise gar keine Zahlungen mehr erhalten oder denen man zustehende Leistungen kürzt, werden von den Anhängern der biopsychosozialen Schule möglicherweise nicht wahrgenommen.

    Häufig bieten die Lehren der biopsychosozialen Schule in der Alltagspraxis von Ärzten, Krankenkassen, Rentenversicherungen, privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen, Arbeitsämtern etc. eine Steilvorlage, um den Patienten Simulation, Hypochondrie oder mangelnden Willen, gesund zu werden, zu unterstellen. Sie werden benutzt als Rechtfertigung für Einsparmöglichkeiten im Gesundheits- und Sozialwesen.

     

    Zu 4: Anleitung zur iatrogenen Chronifizierung  

    Henningsens Krankheitsmodell in Kurzfassung:

    „Die Ätiologie des CFS ist umstritten. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf virale, immunologische oder andere somatische Ursachen; Veränderungen der Stressachsen sind als biologische Korrelate anzusehen. Frühkindliche Traumatisierung sind ein Risikofaktor.“

    Auch wenn es Infektionen als Auslöser gäbe, so betont er: „...mit einer solchen Infektion allein erklärt sich aber nicht die Chronifizierung [13].“

    Diese Chronifizierung sei die Folge verschiedener Faktoren, etwa Stress, der durch psychologische Faktoren ausgelöst und unterhalten würde oder „Überdiagnostik“ seitens der Ärzte, eine übermäßige Schonhaltung der Patienten und durch Selbsthilfegruppen und das Internet gestärkte dysfunktionale Krankheitsvorstellungen. Tatsächlich über Labortests gefundene  Abweichungen seien von daher bedeutungslos - nur „Korrelate und nicht Ursache der Erschöpfungserkrankung“.

    Frühkindliche Traumatisierungen (sexuell, körperlich, emotional) scheinen dagegen ein ätiologisch relevanter Faktor für die Entstehung eines CFS zu sein,...“

    Wenn es sich um Kinder und Jugendliche mit ME/CFS handelt, müssen Ärzte, Gutachter, Schul- und Sozialämter schließen: Kinder und Jugendliche, die ME/CFS haben, werden von ihren Eltern wahrscheinlich traumatisiert (sexuell, körperlich, emotional) und müssen deshalb aus den Familien herausgenommen und richtig therapiert werden: mit Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training.

    Ein solcher Fehlschluss kann zu fatalen, traumatischen Folgen für die betroffenen Familien führen, zu Gerichtsbeschlüssen, mit denen den Eltern das Sorgerecht entzogen wird, die Kinder aus den Familien herausgenommen und zwangsweise für sie schädlichen Therapien unterzogen werden. Dass dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, sondern eher die Regel, bestätigen nicht nur zahlreiche Berichte aus Deutschland, sondern auch das, was Nigel Speight und viele andere aus Großbritannien und den USA berichten.

     Suche nach organischen Krankheiten - Gefahr der „iatrogenen Chronifizierung“

    Bei den diagnostischen Empfehlungen finden wir folgende Aussage:

    „Wie schon gesagt muss zur Stellung der Diagnose CFS ausgeschlossen werden, dass eine organische Erkrankung vorliegt, die die chronische Erschöpfung erklären kann.“

    ME/CFS (nach den Fukuda-, den Kanadischen und den Internationalen Kriterien) ist eine organische Erkrankung. Von daher enthält dieser Satz einen Widerspruch in sich bzw. impliziert erneut, dass „CFS“ keine organische Erkrankung sei. Folgerichtig leitet sich daraus ab, dass der Arzt über eine minimale Labordiagnostik hinaus nicht nach organischen Korrelaten für die ME/CFS-Symptome suchen darf, denn sonst bestünde die Gefahr der  „iatrogenen“, also einer durch ärztliches Handeln herbeigeführten Chronifizierung:

    Wichtig sind frühzeitige Einbeziehung psychosozialer Faktoren in die Diagnostik, Vermeidung iatrogener Chronifizierung und Fixierung auf rein organische Ursachensuche sowie therapeutisch Motivierung zu gestufter Aktivierung und Psychotherapie.“

    Gleichzeitig beruft sich Henningsen auf die Fukuda-Kriterien, die besagen, dass CFS eine Ausschlussdiagnose sei, dass also alle Erkrankungen, die die Symptomatik erklären könnten, vor der Diagnose eines CFS ausgeschlossen werden müssen. Dies ist aber mit der empfohlenen minimalen Diagnostik nicht oder nur schwer möglich.

    Die meisten Leser  haben nicht die Zeit, sich in die Grundlagen eines solchen Artikels einzuarbeiten und sehen wahrscheinlich bei der vorhandenen Reputation des Autors auch gar keine Notwendigkeit, diese zu hinterfragen, selbst wenn immanente Widersprüche offensichtlich sind. Sie richten sich schlicht nach den Handlungsanleitungen, die am Schluss gegeben werden:

    „Konsequenz für Klinik und Praxis

    Ätiologisch und phänomenologisch ist nach gegenwärtigem Wissensstand die Einreihung des CFS in die funktionellen somatischen Syndrome gerechtfertigt, für die insgesamt ein bio-psycho-soziales Verständnis für Diagnostik und Therapie handlungsleitend sein muss.“

    Ob sich diese Handlungsanleitung aus dem vorher Geschriebenen logisch ableitet oder ob sie auf Widersprüchen oder gar Manipulationen der zugrunde gelegten Studien beruht, interessiert dann nicht mehr.

    Von der Gefahr der „iatrogenen Chronifizierung“

    Folgt ein Arzt oder Psychiater der Henningsen'schen Logik und seinen Handlungsanweisungen, so wird er jedem Patienten mit Verdacht auf ME/CFS sagen: „Sie haben keine organische Krankheit, weil wir nichts finden, also ist es somatoform = psychisch bedingt = mit kognitiver Verhaltenstherapie und körperlichem Training zu behandeln“.

    Das bringt den Patienten in eine absurde Situation: er weiß aus alltäglicher Erfahrung, dass er zumindest auch und vorrangig eine körperliche Krankheit hat. Abgesehen davon, dass er dem Arzt oder Psychiater widersprechen muss - was jede Arzt-Patient-Beziehung stark belastet - , muss er als Patient nun beweisen, dass er eine körperliche Erkrankung hat - und nicht der Arzt. Das aber kann er selbst nicht. Er selbst ist ja kein Arzt, kein Labormediziner. Also muss er zum nächsten Arzt gehen. Er kommt leicht in eine Situation, die die selbst von ME/CFS betroffene Ärztin Mary Schweitzer so zusammenfasst:

    „WE ARE ASSUMED GUILTY AND MUST PROVE OURSELVES INNOCENT.“

    „Wir werden für schuldig gehalten und müssen unsere Unschuld beweisen“

    Geht der Patient dann zum nächsten Arzt - nicht nur, um einen „Beweis“ für seine Krankheit zu bekommen, sondern vorrangig, um eine wirksame Behandlung zu bekommen, mit der er seine Gesundheit wiedererlangen kann - , wird er des Arzthoppings beschuldigt und erfüllt nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell ein weiteres Kriterium der oben angeführten Psychischen und Verhaltensstörungen. Durch Arzthopping wolle er seine falschen Krankheitsüberzeugung bestätigt bekommen. Das sich aus der Verzweiflung des Patienten, nicht gehört zu werden und keine Hilfe zu bekommen, notwendig ableitende Verhalten wird als Bestätigung für die angeblich psychogene Natur seiner Erkrankung und als Chronifizierungsgefahr gewertet.

    Das Denken in den Kategorien des biopsychosozialen Modells lässt den Gedanken gar nicht zu, dass der Patient verzweifelt versucht, wieder gesund zu werden. Stattdessen wird sein Verhalten so interpretiert, dass er sich seine Krankheit nur einbilde, vielleicht ein Simulant sei, der es sich in der sozialen Hängematte bequem machen möchte und deshalb nach einem Arzt suche, der ihm seine „dysfunktionalen Krankheitsüberzeugungen“ bestätigt.

    Auch die Schwäche des Patienten, die er so zentral beklagt, wird als selbstinduziert gewertet: die Patienten würden sich zuviel schonen und seien deshalb dekonditioniert und schwach. In diesen Denkmustern führen sie ihre Krankheit also selbst herbei und chronifizieren sie, selbst wenn am Beginn irgendeine Infektion vorgelegen haben mag.

    Und hier schließt sich der Kreis, ein Teufelskreis im Denken der biopsychosozialen Schule, der in der Tat zur iatrogenen Chronifizierung der Erkrankung führt, wenn der Patient nicht auf jemanden trifft, der die Krankheit behandeln kann.

    Das aber ist extrem unwahrscheinlich, weil 1. die Krankheit noch nicht genügend erforscht ist, um daraus Behandlungsansätze abzuleiten, die an den Ursachen angreifen und nicht „nur“ eine Linderung der Symptome herbeiführen, 2. es nur eine Handvoll Ärzte gibt, die sich mit ME/CFS auskennen und diese dann häufig auch nur privat abrechnen, d.h. der Patient sich eine Behandlung dort weder finanziell noch kräftemäßig leisten kann, 3. weil vorhandene Behandlungsansätze etwa mit Rituximab, Valganciclovir oder Ampligen nicht oder nur in den seltensten Fällen von den Kassen ersetzt werden.

    Also geben viele die Erwartung auf, im Medizinsystem Hilfe zu finden und versuchen folglich, sich selbst zu helfen, über Selbsthilfegruppen und das Internet. Das aber wird von Henningsen und anderen Anhängern der biopsychosozialen Schule wiederum als Beweis für die psychogene Natur ihrer Erkrankung gewertet. Der verzweifelte Versuch, sich selbst zu helfen, wenn dann doch offensichtlich im Medizinsystem keine Hilfe zu erwarten ist, wird gewertet als negativer prognostischer Faktor, der zur Chronifizierung insofern beitrüge, als er die Patienten in ihrer falschen Krankheitsüberzeugung stärke und von den „richtigen“ Therapien (CBT/GET) abhielte.

    Tatsächlich sind es aber weder die Ärzte, die ME/CFS-Patienten ordentlich zu diagnostizieren und zu behandeln versuchen, noch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und/oder Internetrecherchen, die zu einer Chronifizierung des ME/CFS führen, sondern die fehlende medizinische Versorgung, die unzureichende Finanzierung von Forschung, die Diffamierung und teilweise auch Sanktionierung von Ärzten, die sich um die angemessene Behandlung der Patienten bemühen, die Diffamierung der Patienten selbst und der Zwang, sich meist schädlichen Behandlungen (Graded Exercise Therapie) zu unterziehen, die die Krankheitsmechanismen anheizt und die Patienten oft so krank hinterlässt, dass die Prognose über Jahre hinweg massiv verschlechtert wird. (Siehe dazu eine Aufzählung von Studien, die dies belegen: http://www.cfs-aktuell.de/februar12_7.htm)

    Die Lage der Patienten wird also durch die geschilderten Zirkelschlüsse und  blinden Flecken vollkommen ver-rückt. Es ist eine Art Doublebind: die Patienten können es nur falsch machen, sie werden in eine ausweglose Lage gebracht (abgesehen von der oft immanenten Ausweglosigkeit der Erkrankung als solcher). Die Menschen werden auf vielfache Weise traumatisiert, durch die Krankheit und den Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben, aber auch durch das Unverständnis und die mangelnde Hilfe durch das Gesundheitssystem.

    Ein weiterer Mechanismus, der die Betroffenen marginalisiert und diskriminiert, ergibt sich aus Folgendem: wenn die Patienten, die schwer krank und nicht mehr arbeitsfähig sind, die monate- und jahrelang verzweifelt versuchen, in ihr altes Leben zurückzukehren und ihren früheren Gesundheitszustand wiederherzustellen und dabei oft solange ihre Schwäche, ihre zahlreichen Symptome ignorieren und weitermachen, bis sie vollkommen zusammenbrechen und die Prognose dadurch dann in der Tat sehr schlecht wird, daran „verrückt“ werden, wenn sie wütend, verzweifelt, depressiv und „schwierig“ werden, so wird das wiederum als Beweis für die angeblich psychogene Natur der Erkrankung genommen.

    Oder gar als „Beweis“ für ihre angebliche Gefährlichkeit - gerade hat der britische Psychiater Simon Wessely, renommiertester Vertreter des biopsychosozialen Modells, kürzlich einen Preis für seinen Mut bekommen hat, trotz ständiger „Todesdrohungen“ seitens der Patienten an seiner „Wissenschaft“ festzuhalten.

    Die Denkmuster des biopsychosozialen Modells führen demnach alle Beteiligten in eine Sackgasse, Ärzte, Psychologen, Sozialsysteme und Patienten gleichermaßen. Die Hauptleidtragenden sind dabei selbstverständlich die Patienten und ihre Angehörigen.

     

    Zu 5: Beschuldigung von ME/CFS-Spezialisten in Klinik und Forschung, die richtigen Therapieansätze zu verhindern

    Auch Ärzte und Wissenschaftler auf dem Gebiet des ME/CFS, die die biomedizinischen Anomalien dieser Krankheit erforschen und Patienten entsprechend zu behandeln versuchen, geraten durch das Denken der biopsychosozialen Schule in eine absurde Lage. Sie werden beschuldigt, sie würden durch „somatisierendes“ Verhalten zur „iatrogenen Chronifizierung“ der Erkrankung beitragen und bildeten ein „therapeutisches Hindernis“ auf dem Weg der Zuführung zur „richtigen“ Behandlung, das heißt mit kognitiver Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training.

    „Während man früher glaubte, dass die stark auf körperliche Ursachen fixierte Einstellung der Patienten ein wesentliches therapeutisches Hindernis sei, zeichnet sich jetzt immer mehr ab, dass das diagnostisch und therapeutisch rein auf noch so unwahrscheinliche körperliche Ursachen ausgerichtete „somatisierende“ Verhalten ärztlicher Behandler ein mindestens ebenso relevantes Problem darstellt.“

    Ärzte, die einen ME/CFS-Patienten medizinisch weiter untersuchen, nachdem sie mit den Routinetests keinen Befund erheben konnten, werden per se beschuldigt, sie seien ein „therapeutisches Hindernis“ und hätten es zu verantworten, wenn durch unnötige redundante somatische Diagnostik 'nur zur Beruhigung' ... die Voraussetzungen für einen günstigeren Verlauf deutlich größer“  werden.

    Das ist, psychologisch betrachtet, eine paradoxe Mitteilung, an Arzt und Patient gleichermaßen. Würde man eine solche Aufforderung zum Unterlassen weiterer Differential- und Facharztdiagnostik bei anderen Krankheitsbildern als therapeutisch richtiges Handeln darstellen, wäre u.U. der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt.

    Ein „günstiger Verlauf“ ist es demnach, wenn der Patient aufgibt, nach biomedizinischen Ursachen seiner Beschwerden zu suchen, selbst glaubt, die Ursache seiner massiven Beeinträchtigungen liege in ihm selbst, in seinem Verhalten, in seiner „Psyche“ und dementsprechend den Therapieempfehlungen von Henningsen und den Leitlinien folgt.

    „Wie schon gesagt muss zur Stellung der Diagnose CFS ausgeschlossen werden, dass eine organische Erkrankung vorliegt, die die chronische Erschöpfung erklären kann.“

    Wie aber kann man ausschließen, dass eine organische Erkrankung vorliegt, wenn die medizinische Diagnostik gleichzeitig verboten und als Chronifizierungsgefahr angeprangert wird? Zudem impliziert eine solche Aussage, dass CFS keine organische Erkrankung und von daher mit organischer Differentialdiagnose auch nicht zu erfassen sei und es deshalb auch keine den Anomalien/Infektionen entsprechende medikamentöse Therapie geben könnte.

    „Es besteht ein iatrogenes Chronifizierungs- und Fixierungsrisiko darin, zu lange immer neue organische Differenzialdiagnostik auch exotischerer Art durchzuführen, ohne die Möglichkeit eines CFS zu bedenken und Anamnese und Therapie in diese Richtung zu lenken.“

    Als exotisch betrachtet er alles, was über die von ihm empfohlene Diagnostik hinausgeht:

    • „Basales Blutbild inkl. Entzündungsmarker

    • Leber- und Nierenfunktionswerte

    • Schilddrüsenfunktionswerte

    • Blutzucker

    • Kreatinkinase

    • Screening für Glutensensitivität

    • Kalziumspiegel

    • Serumferritinspiegel (nur bei Kindern und Jugendlichen)“

    Mit diesen Untersuchungen ist keine der für ME/CFS immer wieder nachgewiesenen Anomalien zu erfassen, so dass der Arzt sich selbst die Begründung für seinen Zirkelschluss schafft: Es liegt keine organische Erkrankung vor, also muss der Psychiater her. Und wenn ich selbst daran zweifle und dennoch weitere Untersuchungen veranlasse, dann bin ich schuld daran, wenn es dem Patienten noch schlechter geht.

    So gerät auch der Arzt durch das Denken der biopsychosozialen Schule in eine paradoxe Situation, in der er es eigentlich nur falsch machen kann - einmal ganz abgesehen davon, dass er mit der Verordnung von „Überdiagnostik“ Gefahr läuft, sein Budget zu überschreiten und die verordneten Untersuchungen am Ende selbst bezahlen zu müssen.

    Es wundert nicht, dass bei einem solchen Vorgehen das Verhältnis zwischen Arzt und Patient „schwierig“ wird - etwas, das in Schriften der biopsychosozialen Schule in einem weiteren Zirkelschluss als Charakteristikum der Patienten und als Beleg für die psychogene Natur ihrer Erkrankung gewertet wird.

    „Schwierig“ wird die Arzt-Patient-Beziehung auch durch die Aufforderung zur Täuschung des Patienten:

     

    Zu 6:  Anleitung zur Herstellung einer paradoxen Kommunikationsstruktur mit dem Patienten

    Um die Patienten von ihrem Irrglauben und seinen falschen Krankheitsüberzeugungen abzubringen, sie litten einer organischen Erkrankung, empfiehlt Henningsen, eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ mit ihnen herzustellen.

    „Diagnostik und Differenzialdiagnostik des CFS erfordert die gezielte Erfassung somatischer und psychischer Symptome und Befunde, ungezielte Überdiagnostik ist zu vermeiden. Für die diagnostische Haltung ist ein Ernstnehmen der Beschwerden unabhängig von der somatischen Befundlage von zentraler Bedeutung.“ (Hervorhebung R.C.)

    Man solle die Patienten demnach einerseits „ernst“ nehmen, andererseits keine weitergehende „ungezielte Überdiagnostik“ vornehmen. Das aber ist ein Widerspruch in sich, denn keine weitergehende medizinische Diagnostik vorzunehmen bedeutet, den Patienten mit seinen massiven Beschwerden nicht ernst zu nehmen. Man könnte das umgangssprachlich auch als Heuchelei oder Täuschung bezeichnen. Stattdessen solle man sie dann Psychotherapie und körperlichem Training zuführen - und man solle ihnen nicht die Diagnose CFS geben, weil „sich das potentiell negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung schlechter auf die Prognose auswirkt“.

    Psychiater und Neurologen, die dem Krankheitsmodell der biopsychosozialen Schule folgen und sich weigern, die medizinische Literatur zu ME/CFS wahrzunehmen, könnten in der Tat nur eine „ungezielte Überdiagnostik“ vornehmen. Denn für eine gezielte Diagnostik muss man wissen, wonach man suchen muss. Wenn man das hingegen weiß, wenn man sich auskennt mit den charakteristischen Anomalien des ME/CFS, ist tatsächlich nur eine relativ eingeschränkte, gezielte Diagnostik nötig, um diese Anomalien bei einem Patienten festzustellen und daraus eine Therapie abzuleiten, die die Symptome zumindest lindern, wenn auch nicht beseitigen kann.

    Die Täuschung besteht also in mehrfacher Hinsicht: 1. der Patient wird nicht entsprechend seinem massiven Beschwerdebild weiterer (gezielter) medizinischer Diagnostik zugeführt, geschweige denn, einer entsprechenden Behandlung. 2. Es soll ihm die seiner Erkrankung entsprechende Diagnose nicht gesagt werden. 3. Dieses Vorgehen wird als „Ernstnehmen“ bezeichnet. 4. Es wird suggeriert, dass es nicht die mangelnde Diagnostik und die dementsprechend fehlende Behandlung sei, die die Prognose verschlechtert, sondern der Patient selbst, der eine weitergehende Diagnostik und Behandlung fordert, sowie vor allem das Internet und die Selbsthilfegruppen, die ihn in seinen falschen Krankheitsüberzeugungen stärken würden.

    Dass hiermit auch der Arzt nicht ernst genommen wird und man ihn geradezu auffordert, seiner ärztlichen Pflicht nicht nachzukommen, ist ein weiteres Merkmal dieses Krankheitsmodells und dem aus ihm folgenden therapeutischen Vorgehen.

    Jeder Versuch des Patienten, den verheerenden Auswirkungen dieser Krankheit zu entkommen (von Arzt zu Arzt zu rennen, sich trotz massiver Einschränkungen solange zur Arbeit zu schleppen, bis ein völliger Zusammenbruch dies schließlich verhindert, Rat bei Selbsthilfegruppen und im Internet zu suchen) wird im Denkschema der biopsychosozialen Schule zum psychiatrischen Symptom und zum Beweis für das Vorliegen von Psychische(n) und Verhaltensstörungen.

    Ein solches Vorgehen trägt alle Merkmale paradoxer Kommunikation:

    „Besonders wichtig ist die Haltung, mit der mit einem Patienten mit Verdacht auf CFS umgegangen wird. Den Patienten mit seinen Beschwerden auch dann ernst zu nehmen und ihm das zu signalisieren („kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für Sie ist“), auch wenn sich keine klar definierte organische Ursache feststellen lässt, ist für den Aufbau einer tragfähigen Behandlungsbeziehung sehr viel günstiger als die implizite Haltung „wer nichts klar Organisches hat, der hat nichts“. Wenn zusätzlich unnötige redundante somatische Diagnostik „nur zur Beruhigung“ unterbleibt, sind die Voraussetzungen für einen günstigeren Verlauf deutlich größer.“

    Statt klar zu sagen, was er letztlich denkt - nämlich „wer nichts klar Organisches hat, der hat nichts“ - soll der Arzt Verständnis vorgaukeln: „kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für Sie ist“. Solche Sätze machen es dem Patienten schwer, zu durchschauen, welches Verständnis der Arzt tatsächlich von seiner Erkrankung hat und die Absurdität der Aussage „wer nichts klar Organisches hat, der hat nichts“ zu thematisieren - und damit zu versuchen, der paradoxen Kommunikation durch Metakommunikation, oder zumindest „Metadenken“ zu entkommen. Es ist offensichtlich, dass es zahlreiche Gründe dafür geben kann, dass der Arzt nichts Organisches findet - und dass er auch nichts finden kann, ergibt sich aus den oben geschilderten Anweisungen zu einer eingeschränkten und ungeeigneten Testung des Patienten.

    Wie sich Henningsen den „Aufbau einer tragfähigen Behandlungsbeziehung“ mit einem Patienten vorzustellen scheint, kann man an den Schilderungen eines solchen ermessen, der nach langen Versuchen, seinem ME/CFS zu entkommen, schließlich zur Begutachtung an der TU München in der von Henningsen geleiteten Abteilung landete.

    Lesen Sie den Bericht hier.

    Er ist paradigmatisch für unzählige Berichte von Patienten, die von Rentenversicherern, Krankenkassen und Arbeitsämtern unter der Drohung des Entzugs ihres Lebensunterhalts zu einer psychiatrischen Begutachtung und psychologischen Behandlungen mit kognitiver Verhaltenstherapie und Aktivierung gezwungen werden. Dieser oft mit existentiellen Bedrohungen verbundene Zwang, an diesen Therapieansätzen teilzunehmen, bezeichnet Henningsen als „therapeutische Motivierung zu gestufter Aktivierung und Psychotherapie“. Das Wort „therapeutisch“ bekommt hier eine ganz spezielle, eine geradezu paradoxe Bedeutung.

    Patienten mit ME/CFS haben aufgrund des im Medizinsystem verbreiteten Glaubens an die scheinbar schlüssigen Aussagen des biopsychosozialen Modells keine Chance, einer verharmlosenden Diagnose im Sinne des Vorliegens von Psychische(n) und Verhaltensstörungen zu entgehen. Medizinische Gutachten werden, selbst wenn sie von renommierten Universitätskliniken kommen, in der Regel ignoriert und lediglich als Beweis für das Vorliegen von ärztlicherseits bestätigten, falschen Krankheitsvorstellungen und als Symptom einer Neurasthenie oder somatoformen Störung gewertet.

    Die Ansprüche der Patienten an Leistungsträger werden regelhaft abbegutachtet.  Den Patienten wird unter existenzieller Drohung Psychotherapie, der Aufenthalt in psychosomatischen Kliniken und körperliches Training aufgezwungen.

    Unterwerfen sich die Patienten der erzwungenen ambulanten oder stationären Psychotherapie und dem körperlichen Training (was regelhaft nichts nützt und die Patienten oft noch kränker macht), werden sie anschließend dennoch häufig als arbeitsfähig entlassen, obwohl sich ihr Zustand dadurch noch verschlechtert hat. In ihren Akten finden sie, das bestätigen unzählige Berichte von ME/CFS-Patienten, bei der Entlassung dann eine psychiatrische Diagnose aus der Abteilung Psychische(n) und Verhaltensstörungen in ihren Akten, die sie in der sozialen Realität als Simulanten und Drückeberger stigmatisiert.

    So verläuft der „Aufbau einer tragfähigen Behandlungsbeziehungnach Henningsen.

    Die Erfahrung zeigt, dass den Patienten auf diese Weise nicht geholfen wird. Stattdessen erleiden sie im Namen von angeblich helfender Medizin teils schwere „iatrogene“ Traumatisierungen, „iatrogene“ Pathogenisierungen und eine „iatrogene“ Chronifizierung ihrer Erkrankung. Sie geraten in einen Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

    Die Beschreibung Henningsens, wie eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ aufgebaut werden soll, liest sich wie eine Anleitung zur Herstellung einer klassischen Doppelbindung, eines Double-Bind im Sinne Watzlawicks und anderer Autoren wie Gregory Bateson und Ronald D. Laing.

    „Die klassischen Beispiele einer Doppelbindungskonstellation beziehen sich auf eine Situation, in der sich die betroffene Person (Opfer) in einer abhängigen Position befindet, in der Anpassung geboten ist und in der sich berechtigte Interessen und Grundbedürfnisse an dominante Bezugspersonen richten, im Negativfall jedoch nicht angemessen befriedigt werden, ggf. mit Scheinalternativen (umgangssprachlich mitunter auch Zwickmühle genannt) beantwortet werden und ein Verlassen der Situation nicht möglich ist.“ (Aus: Wikipedia über Doppelbindungen)

    Die paradoxe oder auch schizophrene Mitteilung besteht darin, dem Patienten einerseits zu sagen, ich will Dir helfen, andererseits Therapieformen anzubieten, von denen der Patient weiß, dass sie unsinnig oder gar schädlich sind und er ihnen aufgrund seiner Schwäche gar nicht folgen kann.

    Der Patient befindet sich in einer abhängigen Position und kann die Doppelbindung nicht auflösen. Der Patient ist in jeder Hinsicht existentiell abhängig, denn er sucht beim Gegenüber Hilfe, seinen nicht mehr funktionierenden Körper entweder wieder zum Funktionieren zu bringen oder ihm, wenn das nicht möglich ist, wenigstens den gesellschaftlichen Schutz zum Überleben zu verschaffen - etwa durch Krankschreibung oder ein entsprechendes Gutachten zur Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.

    Wenn der Patient versucht, den paradoxen Mitteilungen durch Metakommunikation zu entkommen, indem er z.B. den impliziten Unterstellungen und Handlungsanweisungen widerspricht, bestätigt er, was das Gegenüber als Kriterium für seine angeblichen Psychische(n) und Verhaltensstörungen betrachtet: mangelnde Krankheitseinsicht, dysfunktionale Krankheitsüberzeugungen, übermäßige Schonhaltung, eine selbst herbeigeführte Chronifizierung durch Inaktivität und daraus folgender Dekonditionierung in der Folge einer anfangs harmlosen Infektion oder Störung.

    Den Patienten gelingt es u.a. auch deshalb regelhaft nicht, die Doppelbindung durch Metakommunikation aufzulösen, weil sie die Situation in ihrer Angst und Verwirrung und mit dem krankheitsbedingten „Brainfog“ nicht durchschauen, weil ihnen die passenden Informationen fehlen und vor allem, weil sie in einer abhängigen Position sind. Denn wenn sie sich wehren, werden sie durch Schuldzuschreibungen, Drohungen des Entzugs des Lebensunterhalts und unangebrachte und zudem stigmatisierende „Diagnosen“ bestraft.

    Die häufig schwerkranken Patienten beklagen, dass Ärzte und Psychiater, die der biopsychosozialen Schule folgen, oft keinerlei Bereitschaft zur (professioneller) Einfühlung, zu professionellem Mitleid und zu elementarer Wahrnehmungsfähigkeit haben. Sie verstehen nicht, wie ein Arzt oder Psychiater glauben kann, eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ aufbauen und einen therapeutischen Erfolg erzielen zu können, indem sie die Patienten bekämpfen, in Angst und Schrecken versetzen, ihnen den Lebensunterhalt zumindest drastisch kürzen, wenn nicht gar ganz entziehen, sie stigmatisieren, in paradoxe Kommunikationsmuster verwickeln und am Ende bescheinigen, dass man sie fortan weder medizinisch untersuchen noch ernst nehmen darf?

    Um an solchen Erfahrungen, die infolge der weiten Verbreitung der Ideen der biopsychosozialen Schule eher die Regel denn die Ausnahme sind, nicht zu verzweifeln und psychisch zu erkranken, muss man eine äußerst robuste, resiliente psychische Ausstattung haben.

    Die Patientin/der Patient, deren/dessen Schilderung über eine Begutachtung im Hause Henningsen Sie unten lesen können, schilderte, dass sie/er durch eine scherzhafte Bemerkung der Paradoxie zu entkommen versuchte: nachdem mehrere Psychologen vier Stunden lang mit zahlreichen psychologischen Tests ihr/ihm weder eine psychische Störung noch eine frühkindliche Traumatisierung „nachweisen“ konnten (die sie als Bestätigung für die Verdachtsdiagnose Neurasthenie suchten), scherzte sie/er, ob sie denn nun noch weitersuchen wollten, bis sie etwas finden würden und ob ein geklautes Pausenbrot vom Schulhof in der 1. Klasse dazuzählen würde? Daraufhin wurde sie/er mit dem Satz, sie/er dürfe das nicht ins Lächerliche ziehen, wieder in die Schranken der paradoxen Kommunikation verwiesen.

    Die Handlungsalternativen des Patienten führen alle nur weiter ins gesundheitliche, finanzielle und soziale Verderben – der Patient kann es also nicht richtig machen. Das sind die klassischen Zutaten für eine Traumatisierung – in diesem Fall einer iatrogenen, also durch ärztliches Handeln herbeigeführten Traumatisierung.

    Da sich Patienten mit ME/CFS wiederholt und über Jahre hinweg immer wieder in solchen paradoxen Kommunikationsmustern wiederfinden (sie werden gespeist durch die in Leitlinien, Lehrbüchern und Fortbildungstexten verbreiteten Vorstellungen der biopsychosozialen Schule, die der Mehrheit der im Gesundheits- und Sozialwesen tätigen Menschen als Handlungsanleitung dienen), können sich tatsächlich psychische Störungen entwickeln und schließlich chronifizieren. Es wird also nicht nur die Krankheit der Patienten, das ME/CFS, iatrogen chronifiziert (durch Nichtbehandlung und schädliche Therapien), sondern es werden auch iatrogene Traumatisierungen und deren Chronifizierung gesetzt.

    „In Extremfällen, wenn die Kommunikation sehr häufig durch solche Doppelbotschaften gekennzeichnet ist, kann dies beim Adressaten schwere psychische Störungen nach sich ziehen.“ (a.a.O.)

    Es ist verwunderlich, dass Neurologen und Psychiater, zu denen ME/CFS-Patienten regelhaft geschickt werden, diese seit langem bekannten und z.B. von Paul Watzlawik ausführlich beschriebenen pathologischen Kommunikationsmuster nicht erkennen, wenn sie mit ME/CFS-Patienten (und sicherlich auch anderen Patienten mit Multisystemerkrankungen) umgehen. Es ist verwunderlich, dass sie die hier vorherrschende paradoxe Kommunikation selbst nicht durchschauen und sich ihrer darüber hinaus in ihrer ärztlichen Praxis im Sinne der Ausübung von Macht, aber nicht im Sinne der Heilung des Patienten bedienen. Zumal sie selbst ja auch einen gewissen Leidensdruck durch die Begegnung mit Multisystemerkrankten erleben zu scheinen - werden diese Patienten bzw. deren Behandlung doch immer wieder als „schwierig“ beschrieben.

    Während sich bei der Erstellung eines Gutachtens im Auftrag der Versicherungsindustrie durch einen Arzt/Neurologen/Psychiater für beide Parteien eine Win-Win-Situation ergibt, (die Ansprüche des Versicherten werden mit Hilfe des Gutachtens abgewiesen und der Gutachter erhält eine nicht unbeträchtliche Summe von der Versicherung für sein Gutachten), gilt für den begutachteten Patienten in der Regel:

    „Der Zwangscharakter und die „Illusion der Alternativen“ in einer Doppelbindung schaffen für ihn eine „Lose/Lose-Situation“ (engl.: to lose = verlieren).“ (a.a.O.)

    Aber nicht nur bei Begutachtungen im Auftrag von Institutionen und Unternehmen, sondern auch in der ganz „normalen“ Arzt-Patient-Begegnung kann der Patient der Lose-Lose-Situation nicht entrinnen, wenn derjenige, an den er sich mit der Bitte um Hilfe wendet, den Vorstellungen und Handlungsanweisungen der biopsychosozialen Schule folgt.

     

    Zu 7: Beschuldigung von Selbsthilfegruppen, eine wirksame Behandlung zu verhindern:

    Selbsthilfegruppen und entsprechende Internetseiten, oft die letzten Zufluchtsorte der verzweifelten Patienten, sind nach den Vorstellungen der biopsychosozialen Schule ein großes therapeutisches Hindernis, denn sie würden lediglich die falschen Vorstellungen der Patienten stärken, es handele sich um eine „organische, unheilbare Erkrankung“. Dass dies die alltägliche Realität von weltweit geschätzt 17 Millionen Betroffenen sein könnte, wird dabei offenbar nicht in Betracht gezogen.

    „Patienten, die von sich selbst denken, dass sie an einem CFS leiden, haben eine schlechtere Prognose als solche, die für ihre Erschöpfung nicht dieses Label verwenden [14] – ein Unterschied, der viel mit den Erwartungen zu tun hat, die an dieses im Internet, aber z. B. auch von Selbsthilfegruppen geknüpft werden (z. B. „organische, unheilbare Erkrankung“). Es sollte daher immer abgewogen werden, ob im Einzelfall das Mitteilen dieser diagnostischen Bezeichnung einen Vorteil für den Patient bringt, da damit Klarheit und auch soziale Unterstützung verbunden ist, oder ob sich das potentiell negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung schlechter Prognose auswirkt.“

    Demnach sind „Klarheit und auch soziale Unterstützung“ ein Nachteil, weil sie sich „potentiell negativ im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung schlechter [auf die] Prognose auswirk[en]“.

    Das Mitteilen der Diagnose „CFS“ und die Hinwendung zu Selbsthilfegruppen und entsprechenden Internetseiten (wie z.B. dieser hier) würde zudem die Prävalenz des ME/CFS erhöhen - das könne man in den Ländern sehen, in denen die Patientenbewegung stark sei:

    „Auf kulturelle Unterschiede weisen beispielsweise die im Vergleich zu Deutschland höheren Prävalenzraten in Großbritannien hin. Eine Erklärung dafür kann in der gesellschaftlich verankerten Akzeptanz des CFS als diagnostische Entität gesehen werden, welche sich auch in den größeren Aktivitäten von Selbsthilfegruppen niederschlägt.“

    Dieser Satz ist grammatikalisch unklar, kann aber zweierlei bedeuten: wenn die Selbsthilfegruppen Erfolg in ihren Bemühungen haben, die Akzeptanz des CFS in der Gesellschaft zu verankern, dann erhöht das die Prävalenzraten. Die Schlussfolgerung: es sind die Selbsthilfegruppen, die die Patienten krank machen. Oder der Satz bedeutet: weil die Akzeptanz z.B. in Großbritannien größer ist, sind die „Aktivitäten“ der Selbsthilfegruppen stärker. Die implizite Schlussfolgerung könnte lauten: da die Aktivitäten der Selbsthilfegruppen sich negativ auf die Prognose der Erkrankten auswirken, ist es besser, die gesellschaftliche Akzeptanz des Krankheitsbildes zumindest einmal nicht zu fördern.

    Interessanterweise gibt es aber für Deutschland überhaupt keine Prävalenzsstudie, die einen Vergleich der Prävalenzraten zwischen Großbritannien und Deutschland ermöglichen würde. Es gibt also keine evidenzbasierte Grundlage für diese Argumentation.

    Wie auch immer der obige Satz zu verstehen sein mag - Henningsen macht klar, welchen zerstörerischen Einfluss „Selbsthilfegruppen und andere Aktivisten“ haben:

    „Die Frage nach der angemessenen Therapie des CFS ist dabei allerdings ebenso wie die Frage nach der Ätiologie nicht nur eine neutrale Frage nach der entsprechenden wissenschaftlichen Evidenz, sondern auch Gegenstand teils heftiger Auseinandersetzungen unter Beteiligung von Selbsthilfegruppen und anderen Aktivisten (vgl. [7] und weitere Artikel im BMJ vom 25.6.2011).“

    Dies impliziert, dass diese „Selbsthilfegruppen und Aktivisten“ die „entsprechende wissenschaftliche Evidenz“ nicht neutral und sachlich beurteilen, sondern „heftige Auseinandersetzungen“ inszenieren, die der Sache eben nicht angemessen sind, sondern unsachgemäß um die Anerkennung einer „organische(n), also legitime(n) Ätiologie“ kämpfen:

    Korrespondierend zum Kampf um eine organische, also „legitime“ Ätiologie setzen sich die entsprechenden Aktivisten für organisch ansetzende Therapien ein. Psychotherapeutische Verfahren werden von ihnen nicht grundsätzlich abgelehnt, allerdings nur in Form einer Anpassung des Aktivitätsniveaus an Energiereserven in der weiter oben erwähnten sogenannten Adaptive Pacing Therapy (APT, s. u.) – allerdings entspricht dies im wesentlichen einem fortgesetzten Schonverhalten.“

    Pacing ist jedoch nach allen Erfahrungen der Patienten die wirkungsvollste Methode des Krankheitsmanagements. Pacing bringt keine Heilung, aber es verhindert eine Verschlechterung des Zustands mit dem Grundsatz, die körperlichen und geistigen Aktivitäten jeweils vor dem Punkt abzubrechen, dessen Überschreitung erfahrungsgemäß das charakteristische Merkmal des ME/CFS nach sich zieht: die Zustandsverschlechterung nach (zu viel) Belastung. Wird diese Methode über einen sehr langen Zeitraum hinweg konsequent angewendet, kommt es bei vielen Patienten schließlich zu einer Ausweitung der engen Grenzen ihrer Belastbarkeit.

    Selbstverständlich kann es über diese Art des Krankheitsmanagements keine randomisierte Doppelblindstudie geben - sie wäre abgesehen von der Unmöglichkeit einer Doppelblindung auch ethisch nicht vertretbar, denn sie würde bei der Kontrollgruppe, die stets über die Belastungsgrenze hinausgeht, eine massive Verschlechterung des Zustands und der Prognose bewirken. 

    Es ist merkwürdig, dass Henningsen diese erfolgreiche Form des Krankheitsmanagements als „fortgesetztes Schonverhalten“ bezeichnet und damit impliziert, dies würde die Krankheit chronifizieren - im Gegensatz zu dem von ihm empfohlenen ansteigenden körperlichen Training.

    Eine kürzlich erschienene Studie von Leonard Jason belegt, dass Pacing in der Regel eine Besserung oder zumindest Stabilisierung bewirkt, während Graded Exercise zu einer Zustandsverschlechterung führt.

    Soviel zum Thema Pacing. Nun zum Thema der Gefährlichkeit der „Aktivisten“:

    Indem Henningsen sich in diesem Abschnitt auf den Artikel von Hawkes (Hawkes N. Dangers of research into chronic fatigue syndrome. BMJ, 2011; 342: d3780 doi:10.1136/bmj.d3780) bezieht, stellt er Patientenvertreter als gefährliche Aktivisten dar, die Forscher wie den Psychiater Simon Wessely und seine Anhänger bedrohen und ihnen gar nach dem Leben trachteten. Dieser Artikel von Hawkes beginnt mit folgenden Sätzen:

    „Nigel Hawkes berichtet, wie Drohungen gegenüber Forschern von Aktivisten in der CFS/ME-Gemeinde die Erforschung der Krankheit ersticken.

    Es gibt Jobs, mit denen ein Risiko verbunden ist, wenn man sich beispielsweise auf einem Jahrmarkt zur menschlichen Kanonenkugel machen lässt. Es gibt Jobs, bei denen man Schimpf und Schande auf sich zieht, beispielsweise, wenn man Immobilienmakler ist, einen weißen Van fährt oder am Telefon Doppelverglasungen verkauft. Und dann gibt es da den Job, zu versuchen, Forschung zum Chronic Fatigue Syndrom/Myalgischer Enzephalomyelitis (CFS/ME) durchzuführen.“

    Es gibt jedoch nicht einen einzigen Beweis für Bedrohungen dieser Art. Wessely und ihm nahestehende Forscher behaupten immer wieder, sie würden mit Todesdrohungen und Schikanen überzogen. Es liegen der Polizei jedoch keinerlei Anzeigen der angeblich Bedrohten vor, so dass hier der Verdacht naheliegt, dass Patienten und ihre Vertreter lediglich verunglimpft werden sollen.

    Es erscheint wie eine Verdrehung der Tatsachen: Nicht die ME/CFS-Patienten werden so in Verruf gebracht, sondern sie bringen demnach gute Forschung in Verruf - Nigel Hawkes schreibt weiter:  „dass die Menge an kritischen Briefen, die die Zeitschrift zu den PACE-Trials bekommen hat, nach einer aktiven Kampagne roch, um die Forschung in Verruf zu bringen.“

    Damit wird unterstellt, es wären die Patienten, die mit Drohungen und Hetzkampagnen eine ordentliche Forschung auf dem Gebiet des ME/CFS verhindern würden. Tatsächlich fordern diese seit Jahrzehnten vergeblich, dass der britische Staat Gelder für die Erforschung der biomedizinischen Ursachen des ME/CFS zur Verfügung stellt. Es ist die mangelnde Forschungsfinanzierung und häufig auch die Bekämpfung von Forschern, die biomedizinische Studien durchführen wollen, die eine ordentliche, sachgerechte Forschung verhindern.

    Die einzige Studie, die jemals über Steuergelder finanziert wurde, ist die sogenannte PACE-Trial. Die begründete Kritik an dieser PACE-Studie können Sie u.a. hier nachlesen. Diese fundierte und ausführlich dargelegte Kritik wird von Hawkes und anderen jedoch als wütende Kampagne verunglimpft, um die dort als wirksam befundenen Therapien, kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training, in Misskredit zu bringen.

    Henningsen impliziert nicht nur mit dem Zitieren dieser Artikelserie im British Medical Journal, dass sie aus unlauteren und unsachlichen Gründen um die Anerkennung einer „organische(n), also legitime(n) Ätiologie“ und entsprechende „organisch ansetzende Therapien“ kämpfen würden.

    Wie aber kann es gelingen, mit Patienten eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ herzustellen, wenn man ihre Vertreter in dieser Weise diffamiert? Wieso wird Patienten unterstellt, sie wollten sich selbst schaden? Und ihren Vertretern, sie wollten verhindern, dass den Patienten wirksame Therapien zukommen? Ihre Wahrnehmung sei falsch, ihre Forderungen sachlich nicht angemessen? Und sie würden aufrechte Forscher wie Wessely bedrohen?

    Wie kann man eine „tragfähige Behandlungsbeziehung“ auf der Basis einer äußerst einseitigen und umstrittenen Darstellung des ME/CFS herstellen, die nahezu die gesamte biomedizinische Forschung und Fachliteratur ignoriert?

     

    8. Einseitige Würdigung der Fachliteratur bei weitgehendem Ignorieren der medizinischen ME/CFS-Forschung und entsprechenden Veröffentlichungen

    Schaut man sich die Literaturliste des Artikels an, so weist sie ganz überwiegend psychiatrische Literatur von Anhängern der biopsychosozialen Schule auf. Die beiden einzigen Studien, die sich auf infektiöse Korrelate beziehen, sind die XMRV-Studie von 2009 sowie ein Artikel, der sich mit der Nicht-Reproduzierbarkeit dieser Ergebnisse bzw. der späteren Erkenntnis auseinandersetzt, dass XMRV eine im Labor entstandene Chimäre, aber keine Humaninfektion ist.

    Nicht erwähnt wird das Ergebnis der sogenannten Lipkin-Studie (sowie zahlreicher anderer Studien etwa zu anderen, symptomatisch ähnlichen Krankheitsbildern wie MS), dass man weiterhin retrovirale Spuren bei Menschen mit ME/CFS findet, deren Bedeutung jetzt erforscht werden muss.

    Man hat den Eindruck, dass diese 2009-er Studie bzw. ihre partielle Widerlegung nur erwähnt wird, um zu belegen, dass alle Spekulationen über eine immunologische, infektiöse oder andere organische Ursache schon immer unsinnig gewesen wären und, wie sich wieder einmal zeigt, doch hinfällig seien.

    Dementsprechend werden auch die Studien zur Behandlung mit Rituximab, die immerhin bei zwei Dritteln der Behandelten zu erheblichen Besserungen führten, oder auch Studien zur Behandlung mit Medikamenten gegen Herpesviren oder Enteroviren und viele andere Studien (z.B. diese, diese, diese, diese, diese oder diese) nicht erwähnt.

    Ein Artikel, der für sich den Anspruch erhebt, eine Übersicht über ein Krankheitsbild zu geben, sich dabei aber zentral auf eine wahrscheinlich manipulierte Studie (die PACE-Studie) und ein Konzept von 1869 (der Beard'schen Neurasthenie) stützt und der gleichzeitig die etwa 5000 medizinischen Fachartikel aus den vergangenen 20 Jahren ignoriert, in denen seine charakteristischen Anomalien beschrieben und nachgewiesen werden, ist zumindest einmal unvollständig und extrem einseitig.

    Lesen Sie hierzu auch:

    Schlussbemerkung und Kommentar:

    Noch ein Wort zum Schluss: Es geht bei dieser kritischen Würdigung des Artikels von Henningsen nicht darum, Psychotherapie generell zu verdammen oder zu behaupten, es gäbe soetwas wie psychosomatische Beschwerden nicht, also den körperlichen Ausdruck unbewusster seelischer Konflikte oder unausweichlicher sozialer oder beruflicher Zwangslagen. Im Gegenteil.

    Selbstverständlich gibt es soetwas, und für Störungen dieser Art sind gute Psychotherapie auf der Basis eines somato-psychischen Verständnisses und eine gute soziale, psychologische und medizinische Unterstützung wichtig.

    ME/CFS ist jedoch eine somatische, eine neuro-immunologische Erkrankung, bei der es, wie bei allen schweren Krankheiten, natürlich auch zu einer Überlagerung durch psychologische Faktoren kommen kann.

    Ob diese primär sind und/oder sekundär im Sinne etwa einer reaktiven Depression infolge der verheerenden Auswirkungen der Erkrankung oder ob psychische Symptome die direkte Folge biologischer Anomalien sind (etwa der charakteristische „Brainfog“, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen), sei dahingestellt und muss im Einzelfall betrachtet und dementsprechend behandelt werden. Selbstverständlich auch mit Psychotherapie, aber mit einer Psychotherapie, die auf einem sachgerechten Verständnis des ME/CFS beruht, wie sie etwa Eleanore Stein in ihrer Broschüre beschreibt. Und auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die beste Psychotherapie für Menschen mit ME/CFS immer noch die ist, ihren Gesundheitszustand zu verbessern.

    Dann werden sie ganz von alleine aktiver - aktiver, als sie es ohnehin schon sind: Die Psychologin Gabriele Knauf, die zusammen mit ihrem Mann Werner Knauf einen Film über ME/CFS produziert hat, betonte, man müsse diese Patienten nicht aktivieren, sie aktivierten sich selbst - etwas, das auch anhand der in ihrem Film portraitierten Patienten deutlich wird.

    Notwendig wäre bei ME/CFS - wie bei fast allen anderen organischen Erkrankungen auch - eine kombinierte Behandlung, die den Patienten zunächst einmal ohne vorgefasste Konzepte wahrnimmt, die seine organische Krankheit angeht und die psychischen Auswirkungen oder auch psychische „Verstärker“ derselben im Blick hat, die eventuelle psychische Überlagerungen unterscheiden kann von der organischen Krankheit und nicht im Sinne von pseudologischen Zirkelschlüssen, unbewiesenen Spekulationen und impliziten Schuldzuschreibungen den Patienten zum Angeklagten macht und ihn letztlich alleine lässt.

    Aber genau das, eine solch hilfreiche, wahrnehmende Psycho-Somatik wird durch Krankheitsmodelle wie das biopsychosoziale Modell verhindert, ob es sich um tatsächliche psychosomatische Beschwerden handelt oder um organische Krankheiten wie ME/CFS.

    Niemand, und zuallerletzt schwerkranke ME/CFS-Patienten, hätte etwas dagegen, wenn alle Aspekte ihrer Krankheit berücksichtigt und angegangen würden, die biologischen, die psychologischen und die sozialen. Im Gegenteil, das ist das, was sie und ihre Patientenvertreter, Selbsthilfegruppen sowie engagierte Ärzte und Forscher auf diesem Gebiet seit Jahrzehnten vergeblich fordern.

    Leider hat jedoch noch keine dem biopsychosozialen Modell entsprechende Psychotherapie auch nur einen einzigen Menschen mit klassischem ME/CFS (nicht Chronischer Erschöpfung) wieder gesund gemacht. Das beklagen Henningsen und andere selbst:

    Angesichts dessen, dass kognitive Verhaltenstherapie eine abgestufte Rückkehr zur Aktivität beinhaltet, ist es verblüffend, dass gesteigerte Aktivität keine Besserung zustande zu bringen scheint. Genauso haben zwei Studien ergeben, dass gesteigerte Fitness keine Besserung aufgrund von Graded Exercise zustandebrachte. Das ist besonders überraschend, da Graded Exercise Therapie auf einem Modell der Dekonditionierung und Aktivitätsvermeidung beruht.“

    „Considering that CBT involves a graded return to activity, it is intriguing that increased activity does not seem to mediate improvement. Similarly two studies have found that increased fitness did not mediate improvement with GET. This is especially surprising as GET is based on a model of deconditioning and avoidance of activity.“

    (Aus: Medically Unexplained Symptoms, Somatisation and Bodily Distress, Francis Creed, Peter Henningsen, Per Fink,, Cambridge 2011, S. 81)

    Die obige Analyse zeigt - und insofern ist das selbst berichtete Versagen der empfohlenen Therapieformen durchaus keine Überraschung - , dass die biologischen Aspekte der Erkrankung im biopsychosozialen Modell und in der Praxis seiner Vertreter nicht berücksichtigt und die psychologischen und sozialen Aspekte überbetont werden. Statt eine Besserung der Erkrankten zu bewirken, mündet das Krankheitsmodell in paradoxe Kommunikationsmuster, die alle Beteiligten lähmt. Durch sie werden letztlich nicht nur die Patienten, sondern auch die sie behandelnden Ärzte in eine Lose-Lose-Situation gebracht. Wie das obige Zitat zeigt, bringen sich die Vertreter des biopsychosozialen Modells letztlich selbst um einen Erfolg und landen in einer Sackgasse.

    Statt das zu sein, was diese biopsychosoziale Modell vorgibt, nämlich eine Hilfe für den Patienten zu sein, zeigt die leidvolle Erfahrung nahezu aller ME/CFS-Patienten, dass es in der Realität - ob gewollt oder ungewollt - häufig im Sinne von Einsparmaßnahmen im Sozial- und Gesundheitswesen benutzt wird. Patienten und „Aktivisten“ kämpfen nicht gegen hilfreiche Therapieansätze, so wie es z.B. im Henningsen'schen Artikel dargestellt wird, sondern sie kämpfen dagegen, dass man sie ihnen verweigert - und zwar auf der Basis des inhaltlich nicht begründeten Krankheitsmodells der biopsychosozialen Schule.

    Lesen Sie dazu im Folgenden einen exemplarischen Patientenbericht und die folgenden Aussagen der ME/CFS-Experten Malcom Hooper, Leonard Jason und Nigel Speight:

     

    Nachtrag:

    Am 14. Januar 2013 erschien ein 17-seitiger, umfassender Übersichtsartikel von Leonard Jason et al. mit dem Titel: Energy conservation/envelope theory interventions, in dem er beschreibt, dass der Energy Envelope Ansatz, der dem Pacing entspricht, die Lebensqualität der Patienten beträchtlich erhöhen kann, auch wenn dieses Krankheitsmanagement nicht zu einer Heilung führt, während "Patient reactions to CBT and graded exercise have been mixed at best". Die 3-seitige Literaturliste umfasst alle relevanten Veröffentlichungen zur Frage CBT/GET und Pacing.

    In der abschließenden Zusammenfassung schreibt er:

    "Conclusion

    The series of studies summarized in this article provide support for the Energy Envelope Theory as an approach to the rehabilitation management of CFS. This theory would recommend that health care professionals who treat patients with CFS incorporate strategies that help patients self-monitor and self-regulate energy expenditures. Learning to pace activities and stay within the energy envelope appears to have favorable outcomes for patients with CFS. Non-pharmacologic rehabilitative interventions are used for people with cancer and heart disease, but they are only one part of the treatment plan, and, when used by themselves, they are not curative. Similarly, helping patients with CFS remain within their energy envelopes is only one part of a rehabilitation plan.

    (...)

    The Energy Envelope approach to CFS symptom management and rehabilitation has important implications for health care practitioners who see individuals with CFS. Although this approach is not curative, it may provide this patient population with strategies to aid in symptom management, which can significantly improve the quality of life for these individuals."

     

    Abschnitt B:

    Aussagen der ME/CFS-Spezialisten Prof. Malcom Hooper, Dr. Nigel Speight, Kinderarzt und Prof. Leonard Jason

    Prof. Leonard Jason

    Diese Krankheit ist genauso bedeutsam wie jede andere schwere Krankheit, ob das Krebs, Herzversagen oder AIDS ist.

    Wir stehen vor einer nationalen Katastrophe und wir müssen uns dieser Tatsache stellen. Die Krankheit ist heruntergespielt worden – durch Täuschung, Ignoranz der Ärzteschaft und durch Abwürgen der biomedizinischen Forschung. Derweil sind Tausende von Patienten schwer erkrankt. Man zweifelt an ihnen und erklärt sie für selbst schuld, und so leiden viele an ärztlicher Vernachlässigung und Misshandlung.

    Prof. Malcom Hooper

    Es ist eine komplexe, chronische Multisytemerkrankung. Diese inflammatorische Krankheit beeinträchtigt das Gehirn und das zentrale Nervensystem. Sie tritt in Epidemien auf, in Clustern und in Einzelfällen, gewöhnlich nach viralen Erkrankungen. Sie ist vergleichbar mit Multipler Sklerose, Motorneuronerkrankung, Kinderlähmung, Lupus und AIDS.

    Die Dysfunktionen treten im ganzen Körper auf, da das Immunsystem, das neuroendokrine, das autonome und das Herz-Kreislauf-System sowie der Bewegungsapparat betroffen sind.

    Es ist KEINE psychiatrische Krankheit. Es ist KEINE Krankheit, die mit psychischen Störungen und Verhaltensstörungen zusammenhängt.

    Nigel Speight

    Einige Ärzte glauben nicht, dass es diese Krankheit gibt, und wenn man an ihr zweifelt und der Patient sie aber hat, dann ist das problematisch

    Das sind wirkliche Horrorgeschichten, bei denen die Familien durch die Ärzteschaft und durch Gerichtsverfahren regelrecht misshandelt wurden, und keine Familie keine jemals eine Wiedergutmachung, Entschuldigung oder Schadensersatz erhalten.

    ME ist wirklich ein klinisches Syndrom, mit anderen Worten, es ist ein anerkanntes Muster an Symptomen. Viele Patienten haben über 20 dieser Symptome, und sie fallen in ein eindeutiges Muster, dessen Hauptsymptom ist, dass die Erschöpfung und all die anderen Symptome durch körperliche oder geistige Anstrengung verschlimmert werden können.

    Ich glaube, das grundlegende Problem, aus dem sich all die anderen Probleme ergeben, ist das Ausmaß an Unglauben auf Seiten der Ärzteschaft in die Realität des ME als organischer Erkrankung.

    Alles andere folgt dann daraus.

    Weil die Tests, die Standardtests bei dieser Krankheit in der Regel negativ ausfallen, neigen die Ärzte schon dazu, nicht daran zu glauben, dass es sie gibt, und man hat ganz allgemein in den vergangenen 30 Jahren ME in der Organmedizin abgelehnt.

    Das Vakuum ist von den Psychiatern gefüllt worden, die die Krankheit gerne auf ihr Territorium ziehen wollen, und die Spannungen zwischen diesen beiden Teilen der Medizin hält noch heute an. Ich würde sagen, dass die Verhältnisse wahrscheinlich noch schlimmer werden.

    Die Krankheit umfasst ein breites Spektrum an Schweregraden, aber selbst die leichtesten Fälle verdienen eine Diagnose und Anerkennung, weil es passieren kann, dass sich die Krankheit verschlimmert, wenn sie den falschen Rat bekommen oder sich falsch verhalten.

     Am schlimmeren Ende des Spektrums gibt es eine Minderheit von Patienten, die in einem wirklich bedauernswerten Zustand sind. Manche sind in einer Klinik, manche zuhause. Und dieses Ende des Spektrums ist für mich wirklich einer der mächtigsten Beweise dafür, was das für eine ganz reale Krankheit ist und dass man sie nicht mit psychiatrischen Ursachen wegerklären kann.

    Ich glaube, es gibt da ein wirkliches Problem mit der gegenwärtigen Ausbildung der Ärzte, sowohl mit der universitären als auch mit der nachuniversitären Ausbildung. Die Lehrbücher stellen die Krankheit nicht richtig dar. Eines der führenden Pädiatrie-Lehrbücher verbannt ME in die Abteilung Kinderpsychiatrie und nennt ME eine der verbreitetsten Somatisierungsstörungen in der Kindheit, und dieses Buch hat Generationen von frisch ausgebildeten Ärzten beeinflusst.

    Im Allgemeinen wird in den medizinischen Fakultäten nichts darüber gelehrt, und ME wird als eine Art stigmatisierter Krankheit hinterlassen, die es nicht wirklich gibt!

    Und das ist es, was die Patienten dann dem Unglauben aussetzt, der immer noch so weit verbreitet ist und möglicherweise noch schlimmer wird.

    Leonard Jason

    Um bei der Behandlung keine Fehler zu machen, ist es entscheidend, die Patienten mit einzubeziehen. Und wenn man das falsch macht, wenn man einen Menschen mit ME der falschen Behandlung aussetzt, dann kann man diesem Menschen schaden.

    Deshalb müssen wir so sorgfältig sein, damit wir die Betroffenen angemessen diagnostizieren und ihnen die angemessene medizinische Behandlung zukommen lassen, statt ihnen etwas zu empfehlen, was ihre Symptome tatsächlich schlimmer macht.

    Malcom Hooper

    Es ist eine entzündliche Krankheit des Gehirns und des Rückenmarks, verbunden mit Muskelschmerzen, und deshalb sind die Schmerzen so stark.

    Ganz zu Anfang wurde ME als atypische Kinderlähmung beschrieben. Heute wissen wir, dass einige Menschen mit ME an Lähmungen leiden, also, so ähnlich wie bei Kinderlähmung ist ME mit Lähmungen verbunden.

    Es liegt eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks vor,so wie man sie auch bei Polio bekommt. Die andere neurologische Krankheit, mit der ME Ähnlichkeiten hat, ist Multiple Sklerose. Und beides sind schwere Erkrankungen.

    Leonard Jason

    Die Situation ist besorgniserregend. Da gibt es Menschen, die haben die schlimmsten gesundheitlichen Probleme, und sie werden so schlecht behandelt. Wir haben ein Gesundheitssystem, das ihren Bedürfnissen überhaupt nicht gerecht wird. Viele haben aufgegeben. Viele haben das grundlegende Gefühl, dass ihr Gesundheitswesen, ihre Regierung sie im Stich gelassen hat.

    Das sind Menschen, die stigmatisiert und vor den Kopf gestoßen werden, sie sind schon durch die Krankheit traumatisiert und dann werden sie noch durch das Gesundheitswesen und oft auch ihre Familienmitglieder sowie Kollegen traumatisiert, die es einfach nicht begreifen. Der Grund, warum sie es nicht begreifen ist, dass die Krankheit mit einem solchen Stigma umgeben ist. Das müssen wir ändern.

    Nigel Speight

    Es gibt da die Sorte Ärzte, die an ME glauben, aber dann glauben sie doch zu sehr an die Wirksamkeit der gegenwärtig empfohlenen Behandlungen, insbesondere ansteigendem körperlichen Training.

    Es kann also passieren, dass sie einen mittelschweren Fall von ME haben und den Patienten diesem ansteigenden körperlichen Training unterziehen, was den Zustand des Patienten verschlechtert.

     Und dann glauben sie entweder, dass die ursprüngliche Diagnose falsch war und schicken ihn zum Psychiater oder sie verstärken das Ausmaß des körperlichen Trainings oder sie lassen sie im Stich oder sie unterziehen sie einem Sorgerechtsverfahren oder werfen ihnen irgendwie vor, sie seien selbst schuld, warum die Therapie bei ihnen nicht wirkt. Es ist ein bisschen wie bei den Generälen im Ersten Weltkrieg, die ihre Soldaten der Feigheit beschuldigten, wenn die Pläne der Generäle fehlschlugen.

    Leonard Jason

    In der Wissenschaft ist man sich einig, dass die Betroffenen unglaubliche funktionelle Beschränkungen haben.

    Viele Studien heben das hervor, aber darüber hinaus sehen wir auch Studien über das Immunsystem, die eine Verschiebung der Th1-Th2-Balance zeigen. Wir sehen auch Störungen im neuro-endokrinen System, wo die Cortisolwerte anormal zu sein scheinen, und das ist erneut ein Indiz dafür, dass hier auf der biologischen Ebene etwas falsch läuft. Wir sehen Indizien dafür bei der Herzfunktion, dass da etwas nicht stimmt, insbesondere ein niedriges Blutvolumen.

    Wir sehen auch Indizien dafür innerhalb des Gehirns mit funktioneller Magnetresonanztomographie, mit Positronenemissionstomographie und einer Reihe anderer Instrumentarien. Wir sehen Unregelmäßigkeiten in einer Studie nach der anderen.

    Wir wissen, da geht irgendetwas vor sich, und die Herausforderung besteht darin, alle diese Bruchstücke zu einem Bild zusammenzufügen.

    Nigel Speight

    Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass es eine Minderheit schweren Fällen gibt, von denen ich eine Menge gesehen habe - und der Anblick, den man von diesen Menschen hat, die in abgedunkelten Räumen liegen, mit ständigen Schmerzen am ganzen Körper, die auf Anti-Dekubitus-Matratzen liegen, mit Sonde ernährt werden müssen, die Schmerzmittel brauchen und alle möglichen zusätzlichen Pflegemaßnahmen, und das alles kann sich über Jahre hinziehen.

    Das Paradoxe ist, sie sind diejenigen, die tatsächlich am schlechtesten behandelt werden, die das höchste Risiko haben, von den Spezialisten im Stich gelassen zu werden, der schlichten Versorgung durch den Hausarzt überlassen werden und die vom Medizinsystem und den Medien ignoriert werden. Sie riskieren sogar, ihre Sozialleistungen zu verlieren. Und diese kleine Minderheit an Patienten werden von der offiziellen Medizin im Stich gelassen.

    Leonard Jason

    Das ist eine Krankheit, die Einschränkungen mit sich bringt, die genauso schwer sind wie bei allen sehr ernsthaften Erkrankungen, und dennoch wird den Leuten die diese Krankheit haben, einfach nicht geglaubt.

    Sie haben eine sehr schwerwiegende Erkrankung und wir haben trotzdem ein medizinisches Establishment, das deren Bedeutung und Schwere nicht wirklich versteht.

     Die Tatsache also, dass es diese zwei einander widersprechenden Sichtweisen gibt, macht es so außerordentlich wichtig, dass Wissenschaftler wie ich sich damit beschäftigen und herausfinden, warum das so ist. Was ist der Grund dafür?

     Mich interessiert, warum es da so ein starkes Stigma gibt, warum es so viel Unglauben gibt, warum es Menschen gibt, die als Simulanten betrachtet werden, wo sie doch tatsächlich eine sehr schwerwiegende, lähmende Erkrankung haben, die keine psychologische Krankheit ist. Das ist eine organische Krankheit.

    Malcom Hooper

    Im Jahr 1969 hat die Weltgesundheitsorganisation Myalgische Enzephalomyelitis in den Abschnitt Neurologie aufgenommen.

    Die WHO hat die Krankheit anerkannt. Die WHO hat die Arbeiten anerkannt, die über diese Krankheit veröffentlicht worden waren, und die Krankheit ist immer noch im Kapitel über neurologische Krankheiten als neurologische Krankheit mit dem Schlüssel G93.3.

    Wir haben also ein klares Verständnis davon, was das bedeutet, und es bedeutet Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks mit Muskelschmerzen. Das ist es, was dieser Begriff und seine Klassifikation bedeuten.

    Was danach geschah, ist ein ständiger Versuch - angefangen in den 1970er und 1980er Jahren, die Krankheit als psychische oder psychiatrische Krankheit umzuklassifizieren, und dazu war eine andere Bezeichnung nötig.

    Und die Bezeichnung wurde gegen den Wunsch der Menschen in den Vereinigten Staaten eingeführt, wo man es zuerst gemacht hat.

    Es war bei einer Konferenz im Jahr 1988, bei der der Begriff Chronic Fatigue Syndrome übernommen wurde.

     Die Folge davon ist, dass man nur einfach entweder das Wort Chronic oder das Wort Syndrome weglassen muss und damit das gesamte Verständnis der Krankheit und die gesamte Grundlage der Klassifikation der Krankheit weg von der Neurologie hin zu den psychischen und Verhaltensstörung verändern kann.

    Und der Name Chronic Fatigue Syndrome ist jetzt der Grund dafür, warum wir mit einer heftigen Auseinandersetzung in Wissenschaft und Medizin zu kämpfen haben, in der die Patienten völlig hinten runter fallen.

    Leonard Jason

    Chronic Fatigue Syndrome ist ein äußerst trivialisierender Name. Chronic Fatigue Syndrome ist ungefähr so, als ob man zu jemanden mit einem Ephysem oder Bronchitis sagen würde, er habe ein chronisches Hustensyndrom.

     Es ist nicht allein das Symptom, das die wirkliche Tragweite dieser Krankheiten zum Ausdruck bringt. ME ist eine Krankheit, die extrem zerstörerisch ist und die wirklich unglaubliche funktionelle Einschränkungen für die Patienten mit sich bringt.

    Die Tatsache, dass Erschöpfung in der Bevölkerung so verbreitet ist, untergräbt die Tragweite dieser Krankheit.

    Nigel Speight

    Bei Kindern mit ME habe ich viele Fälle erlebt, bei denen der anfängliche Glaube daran, dass das Kind krank ist, sich in Unglauben verwandelt, insbesondere dann, wenn die Tests keinen Befund ergeben. Und dann gibt es da eine Reihe von Reaktionsmöglichkeiten.

    Manchmal lehnt der Kinderarzt den Patienten einfach ab und schickt ihn zurück zum Hausarzt, manchmal stellt er ihnen eine Fahrkarte ohne Wiederkehr in die Psychiatrie aus, und insgesamt gesehen haben diese Patienten noch mehr Glück als die Minderheit der Fälle, die ausgesprochen bedauernswert sind und bei denen sich Ärzte gegen die Familien wenden und mit wirklich hässlichen Erklärungen für die Krankheit ankommen wie etwa Münchhausen-Stellvertretersyndrom, also, dass die Mutter das Kind krank macht, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

     Wenn sie die Maschinerie der Maßnahmen zum Kinderschutz einmal in Gang gesetzt haben, bringt das für die Familie extreme Erschütterungen mit sich. Ich war in mehr als 25 Fälle solcher Sorgerechtsverfahren involviert, bei denen den Kindern gedroht wurde, sie aus den Familien herauszunehmen, und manchmal sind sie tatsächlich herausgenommen und in Pflegefamilien untergebracht worden, wo es ihnen natürlich nicht besser ging.

     Das ist wirklich Kindesmissbrauch durch Amtsträger. Ich habe eine junge Frau behandelt, die offiziell tatsächlich die Diagnose ME hatte und in eine dieser speziellen Behandlungszentren für ME ging, wo sie einer ziemlich offensiven Behandlung mit ansteigendem körperlichen Training unterzogen wurde und sich ihr Zustand innerhalb von sechs Monaten dort massiv verschlechtert hat.

     Das geschah unter der Drohung eines Gerichtsbeschlusses, dass die Eltern damit kooperieren mussten - und es geht ihr dadurch sehr viel schlechter und sie ist jetzt wieder zuhause, wo sie sich sehr langsam erholt.

    Leonard Jason

    Alle Wissenschaft beruht darauf, dass man die gleiche Art Individuen untersucht, so dass wir Aussagen über ihre Biologie machen können und über ihre unterschiedliche Reaktion auf Behandlungen. Deshalb ist es entscheidend wichtig, herauszufinden, wer diese Krankheit hat.

     In Großbritannien und anderen Ländern werden häufig die Oxford-Kriterien und die Fukuda-Kriterien eingesetzt. Das zentrale Problem ist, dass diese Kriterien sehr umfassend sind und in die Kategorie der ME-Patienten auch Leute hineinbringen können, die diese Krankheit nicht haben.

     ME ist oft ganz ähnlich mit manchen Symptomen einer majoren Depression - einer der bekanntesten und häufigsten psychiatrischen Erkrankungen hier in Großbritannien und auch in meinem Land, den USA. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, eine majore Depression von ME/CFS zu unterscheiden, und wenn man das nicht macht, dann mengt man Menschen mit majorer Depression in die Kategorie, die wir als ME verstehen.

    Es ist keine Frage davon, ob man manche Symptome hat und andere nicht hat. Man muss unter Zustandsverschlechterung nach Belastung leiden. Man muss einige der neurologischen Symptome haben. Man muss Schlafstörungen haben. In diesem Sinne werden durch die Kanadischen Kriterien Menschen identifiziert, die die klassischen Symptome haben.

    Malcom Hooper

    Eines der Probleme bei dem ganzen Thema ME ist die Art und Weise, in der die Krankheit definiert wurde.

    Für mich ist die wichtige Beschreibung des ME die, dass es eine komplexe Multisystemerkrankung ist, und das spiegelt sich in den besten Kriterien zu Diagnose und zum Verständnis der Krankheit wider, die wir haben - den Kanadischen Kriterien. Sie sind spezifischer.

    Die Kanadischen Kriterien sind ein klinischer Konsens, der von Klinikern aus Nordamerika, Kanada, den USA und Europa entworfen wurde. Er stellt ein fundiertes Verständnis der Krankheit dar, von Klinikern, die täglich mit der Krankheit zu tun haben.

    In diesen Kriterien spiegeln sich viele, viele tausend Stunden Behandlung, Kontrolle und Untersuchung von Patienten wider, und die Tatsache, dass sie nicht übernommen werden, ist für mich und für die Menschen mit ME Anlass zu großer Sorge.

     Die Kanadischen Kriterien sind von Klinikern für Kliniker, und die Ärzte in der Praxis sollten sie einsetzen müssen, um ihre Patienten zu untersuchen.

    Leonard Jason

    Wir möchten sicherstellen, dass wir Menschen mit ME erforschen und nicht Menschen mit einer majoren Depression. Und der Grund, warum das so wichtig ist, ist - wenn man aerobes Training oder ansteigende körperliche Belastung oder Aktivierung als eine der vorrangigen Behandlungsansätze verordnet und die Leute antreibt, immer mehr zu tun, dann fühlen sich Menschen mit einer majoren Depression tatsächlich besser, aber Menschen mit ME geht es davon schlechter.

     Das ist eine unglaublich wichtige Unterscheidung im Hinblick auf die Behandlung, und dennoch ist es möglich, diese zwei Krankheiten zusammenzuwerfen, weil sie einige Symptome gemeinsam haben, aber damit würde man großen Schaden anrichten, denn diese beiden Krankheiten sind verschieden.

    Malcom Hooper

    Die Todesfälle aufgrund von ME sind wirklich erschreckend, weil die Unterstellung, dass niemand an ME sterben würde, einfach nicht stimmt.

     Die derzeitigen Versuche, ME als eine psychische Erkrankung und Verhaltensstörung zu behandeln, sind komplett gescheitert.

     Und das ist ein Scheitern, dass durch die Ablehnung des MRC gestützt wurde, auch nur die geringste Erforschung der biologischen Ursachen der Krankheit zu finanzieren.

     Eine der übelsten Aussagen, die ich je gehört habe ist die, dass die Regierung finanzielle Mittel einsetzt, um Politik zu machen, und das ist Politik! Es ist die falsche Politik! Es ist schlechte Politik! Es ist destruktive Politik! es ist abwegige Politik!

     Aber wir schütten Gelder aus, um sie zu stützen, weil wir die Regierung sind. Und die Regierung hat sich tatsächlich ideologisch verpflichtet, beinahe in Orwellschem Sinne, sicherzustellen, dass diese Krankheit wirklich als psychisch und verhaltensmäßig verursacht betrachtet wird. Und da liegt der Fehler begraben.

    Nigel Speight

    Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Situation tatsächlich schlimmer statt besser wird. Und ich glaube, dass die Leute die NICE Guidelines so interpretieren, dass sie sich gezwungen sehen, Psychiater einzuschalten und einen multidisziplinären Ansatz zu verfolgen,  und dass sie zu sehr an körperliches Aufbautraining und kognitive Verhaltenstherapie glauben.

     Ein weiteres Problem besteht darin, dass mit der jetzt eingeführten orthodoxen Sichtweise der NICE Guidelines viele Ärzte, die an vorderster Front sind bei der Behandlung und Unterstützung von Patienten mit ME, Kindern wie Erwachsenen, jetzt in ihrer Berufsausübung bedroht sind, weil sie das Risiko einer Beschwerde beim General Medical Council eingehen. Ihre Patienten werden der Möglichkeit beraubt, behandelt zu werden, und andere Ärzte arbeiten in einem Klima der Angst.

    Es scheint eine neue Art Stalinismus in das britische Medizinsystem Einzug zu halten.

    Malcom Hooper

    Das ganze Täuschungsmanöver, das man durchgeführt hat, um diesen Standpunkt aufrechtzuerhalten, ist, glaube ich, jetzt einfach nicht mehr haltbar.

     Wir müssen diese Krankheit wirklich in den Griff bekommen und auf die Leute hören, die Tausende von Fachartikeln veröffentlicht haben, die zeigen, dass dies eine körperliche Krankheit mit einer organischen Grundlage ist, die man angehen kann.

    Nigel Speight

    Ich glaube, was wir jetzt brauchen ist, dass die Medizin sich dieser Krankheit annimmt, dass sie die Verantwortung für sie als einer organischen Krankheit übernimmt, dass sie verstärkt Forschung betreibt, um die biologischen Ursachen zu finden, dass sie die Betonung der Psychiatrie herunterfährt und dementsprechend die medizinische Ausbildung verbessert.

     Wenn diese Krankheit nicht 30 oder 40 Jahre von der Psychiatrie gekapert worden wäre, dann hätten wir jetzt längst die Ursache dafür gefunden. Und die Sachlage wäre in sehr viel besserem Zustand.

     

    Patientenbericht über eine Begutachtung im Hause Henningsen

    Ich hatte 2011 das „Vergnügen“, Henningsen und seine untergebenen Mitarbeiter persönlich kennenlernen zu „dürfen“. Meine Berufsunfähigkeitsversicherung hatte mich zum Gutachten dorthin geschickt.

    Zur Vorgeschichte:

    Meine Erkrankung begann im August 2008 mit Pfeifferschen Drüsenfieber und direkt anschließendem CFS. Ich arbeitete noch bis März 2011 weiter. Fragt nicht, wie ich das machte. Es war oft die Hölle, aber ich wollte unbedingt in meinem geliebten Beruf weiterarbeiten und hoffte immerzu, dass es irgendwann doch mal wieder besser werden „muss“. Ich wusste lange Zeit nicht, was da überhaupt los war mit mir, warum es mir so schlecht ging. Ich war ja immer gesund und sehr leistungsfähig gewesen.

    Also habe ich alles versucht, um wieder gesund zu werden. Habe > 50 Ärzte und ein paar wenige Heilpraktiker (anfangs war ich so dumm) „verschlissen“, aber letztlich konnten sie mir alle nicht helfen, und bei einigen hatte ich das Gefühl, sie nahmen mich als ahnungslosen Privatpatienten wie eine Weihnachtsgans aus. Anmerkung: Es war nicht nur ein „Gefühl“, sondern Fakt!

    Wohl auch zu Recht hat meine private Krankenversicherung vieles davon nicht bezahlt. Ich hatte Kontobewegungen (Abgänge) wie ein Kleinunternehmer. Schließlich bekam ich von der Krankenversicherung lange Zeit überhaupt nichts mehr oder nur bruchstückhaft ersetzt. Dann musste ich mit meiner nicht vorhandenen Kraft wieder ums Geld kämpfen.

    Meine Krankenversicherung schickte mich dann das erste Mal im Herbst 2011 zum Gutachtertermin in die Psychiatrie ins Klinikum XY. Dort saß mir eine Oberärztin (Psychiaterin und Neurologin) gegenüber. Dieser Dame war von vornherein klar, dass ich eine psychische und keine somatische Erkrankung hätte. Ich wäre ein „Ärztehopper“ und ließe unnötige und planlose Laboruntersuchungen machen. Ich solle mich mit einer zunächst ambulanten Psychotherapie auseinandersetzen, sonst könne sie mich beim nächsten Gutachtertermin nicht mehr als „bald wieder arbeitsfähig“ beurteilen. Somit würde ich ab dem Tag kein Krankentagegeld mehr bekommen. Das war die erste offene Drohung!

    Nach Rücksprache mit der Krankenversicherung musste ich den Mist an Psychotherapie leider machen, zumindest den guten Willen zeigen. Diese brachte natürlich nichts, im Gegenteil, denn es war noch mehr Verschleiß von Kräften, die ich nicht hatte.

    Ich musste dann alle vier Monate zur erneuten Begutachtung zu dieser Psychiaterin. Im Sommer 2012 eskalierte es. Sie drohte mir mit Beendigung meines Krankentagegeldanspruchs, weil ich immer noch keine mindestens 5-wöchige stationäre Psychotherapie machen wollte. Das würde sie so ins Gutachten reinschreiben. Meine ambulante Psychotherapie war ihr viel zu wenig. Mein wenige Tage später erhaltenes Befundschreiben von Frau Prof. Dr. Scheibenbogen / Charité ignorierte sie völlig.

    Ich habe selbstverständlich von Anfang an alles versucht, um nicht zu psychiatrischen Begutachtungen gehen zu müssen, auch bei jeder erneuten Vorladung. Aber da hatte ich keine Chance, denn wenn ich nicht hingegangen wäre, hätte ich ab dem Tag kein Krankentagegeld mehr bekommen. Erst seitdem die Entscheidungsträger in der Hauptverwaltung der privaten Krankenkasse von den Befunden der Charité überzeugt sind, war die Meinung die, „dass Frau/Herr XY wohl eher zu einem Immunologen als zu einem Psychiater zu Gutachterterminen gehört“!

     

    Parallel zur Krankenversicherung habe ich noch eine raffinierte und normal sehr gute Berufsunfähigkeitsversicherung. Diese weigert(e) sich zu zahlen. Sie müsste nämlich die Differenz zu meinem letzten Nettogehalt und dem Krankentagegeld bezahlen.

    Zuerst musste ich zu Internisten in der YZ-Klinik. Den Oberarzt empfand ich als hochgradig arrogant. Er betrachtete mich als totalen Psychospinner und sagte, CFS gäbe es gar nicht und ich solle mir nichts einreden lassen von geldgierigen Privatärzten. Dann wurde ich in die Psychosomatik von Herrn Henningsen weitergereicht.

    Ich habe ALLES versucht, um diesen Termin nicht wahrnehmen zu müssen. Mir war klar, was da ablaufen würde (wenn auch nicht in dieser Form und in diesem Ausmaß). Keine Chance. Falls ich nicht teilnehmen würde, gäbe es keinen Anspruch auf mögliche Versicherungsleistungen...

    Bei dem Begutachtungstermin im Hause Henningsen wurde ich vier Stunden (!) von oben herab durchgenommen, und zwar mit jeder Menge psychologischer Tests. Es waren allesamt Psychotests und Depressionsskalen. Der Trick war der, dass es unterschiedliche Tests gewesen sind, die dann quergelesen wurden. D.h. fast identische Fragen kamen in verschiedenen Tests dran und das zeitversetzt. Du musstest aber jeden fertigen Test abgeben, so konntest Du selbst nie vergleichen. Letztlich konnten/wollten sie so sehen, ob ich das alles nur vorspiele.

    Nach Abschluss der geschlossenen Testfragen kam der Teil mit offenen Fragen und den Psychologen in einem Raum. Hier wurde ich begutachtet, wie meine Gestik und Mimik zu den Fragen ist usw. Und ich musste einen Roman über meine tatsächlich rundum glückliche Kindheit und meine berufliche (sehr erfolgreiche) Laufbahn erzählen.

    Mir kam das Ganze wie ein Verhör vor. Allein, dass sie mich 4 Stunden testeten und ich das mehr oder weniger durchhielt, war ein Versuch, mir nachzuweisen, dass es mir doch gar nicht so schlecht gehen könne. Dass ich, wie es für ME/CFS charakteristisch ist, in den Folgetagen durch diese enorme Belastung eine erhebliche Verschlechterung meines Gesundheitszustandes erlebte, sahen sie natürlich nicht. Danach wurde nicht gefragt, und natürlich bezog Henningsen das auch nicht in sein Gutachten ein.

    Die mich beurteilenden Gutachterpsychologen waren am Ende sogar auf meiner Seite und meinten, sie würden „echt gar keinen Anhaltspunkt für eine Neurasthenie finden, da ist nichts Auffälliges“. Sie durften mich aber noch nicht gehen lassen, solange die Herren Henningsen und sein Oberarzt L. mich nicht gesehen hatten. Also warteten wir, bis beide endlich Zeit hatten und ich eine Audienz bekam.

    Beide kamen kurz herein, sahen bei lustlosem und schnellem Durchblättern einen negativen Borreliosebefund in all den Unterlagen, die ich ja mitbringen musste, interessierten sich für weiter nichts, und schon war es geschehen. Es dauerte keine Minute, und weg waren sie. Ich empfand dieses „Schauspiel“ als hochgradig arrogant und an Überheblichkeit nicht zu überbieten. Sie gingen sofort auf die große Anzahl meiner Befunde und insbesondere auf den (negativen) Borreliosebefund ein. Es gäbe keine chronische Borreliose und das sei eine eingebildete „Internetkrankheit“. Sie hätten hier in der Station viele sogenannte chronische Borreliose-Kranke, die allesamt eine Störung psychosozialer Natur hätten. Dass ich diesen Befund als „Ausschlussdiagnose“ machen ließ und das bei CFS so üblich ist, wollte keiner hören.

    Sie verwiesen mit einem Merkblatt, das mir die Untertanen aushändigen mussten, auf einen tollen Neubau der stationären Psychotherapie. Dieser wäre superneu und erst seit März 2011 eingeweiht.

    Auf meine CFS-Erkrankung gingen sie gar nicht ein und bügelten ihre Mitarbeiter ab, die darauf und auf das „Nichtfinden einer Neurasthenie“ hinweisen wollten. Henningsen und sein Oberarzt meinten, es ginge alleine schon aus der Anzahl meiner Untersuchungen und der Anzahl der besuchten Ärzte ganz klar hervor, was ich hätte.

    Sie gingen kurz noch darauf ein, was ich beruflich machen würde. Ich erwiderte, ich sei mit meinem akademischen Abschluss in einem rundherum guten Umfeld und gut dotierter Position erfolgreich tätig. Zudem würde ich meinen Beruf sehr mögen, und mir wäre arbeiten eminent wichtig. Das hätte ich auch der Wand erzählen können. Dann verabschiedeten sie sich.

    Meine Gutachter-Termine in der Psychiatrie waren wirklich ein Klacks gegen diese Begutachtung und ein „Sturm an Verständnis!“

    Mir war danach sofort klar, das Gutachten würde genauso ausfallen, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung nicht zahlen muss. Und so war es dann auch. Insgesamt habe ich von der ersten Überweisung zu den Internisten in der Klinik YZ bis zum Erhalt des Henningsen’schen Gutachtens acht Monate warten müssen.

    In diesem wird dann ausführlich dargelegt, dass ich bei keinem der Tests irgendwelche Auffälligkeiten hatte, die eine psychiatrische Diagnose stützen würde. Dennoch endet das Gutachten mit folgendem Satz:

    „Es geht aus den zur Verfügung gestellten Akten sowie der Untersuchung der Probandin / des Probanden und der obigen ausführlichen Darstellung für die Unterzeichner eindeutig hervor: dass die Probandin / der Proband aufgrund seiner Neurasthenie in der Ausübung seines Berufes beeinträchtigt ist. Es ist von einem mittleren Schweregrad entsprechend einer Berufsunfähigkeit von derzeit 30% auszugehen.“

    Das bedeutet: ich bekomme von meiner Berufsunfähigkeitsversicherung keinen Cent.

    Unter dem Strich hat mir die „Begutachtung“ im Hause Henningsen nicht geholfen, sondern massiv geschadet. Auf der gesundheitlichen Ebene hat sie natürlich nichts gebracht, und finanziell komme ich dadurch aufgrund meiner fortgesetzten Arbeitsunfähigkeit asap in große Not. Wem sie hingegen zweifelsohne genutzt hat, ist meine Berufsunfähigkeitsversicherung. Für diese war die Investition, Herrn Henningsen und seinen Leuten ein bestimmt mehrere Tausend Euro teures Gutachten zu bezahlen, in jedem Fall lohnend! Für beide eine sog. Win-Win-Situation!